Auch das jetzt beendete Festival des Jahres 2018 hat gezeigt: der Dokumentarfilm hat einen festen Platz auf der Filmschau Baden-Württemberg. Sechszehn Filme konkurrierten im Wettbewerb. Für Dokumentarfilm.info fasst unser Festivalexperte Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms seine Beobachtungen zusammen. Dabei sah er nicht nur beeindruckende Filme, sondern nahm auch an Workshops und einer Masterclass teil, die sich mit Aspekten des dokumentarischen Films beschäftigten.
Den vom Haus des Dokumentarfilms und dem Filmbüro BW mit einem Preisgeld von 2000 Euro dotierte Dokumentarfilm-Preis gewann – wie oft in den Vorjahren – eine Produktion der Filmakademie Baden-Württemberg; nämlich »Stammtisch« von Constantin Hatz. Eine Lobende Erwähnung sprach die dreiköpfige Jury für die HDM-Absolventin Lilith Kugler und ihren Film »La Maladie du Démon« aus (siehe separaten Bericht zur Preisverleihung). Neben zahlreichen Arbeiten von Filmhochschulen und Nachwuchstalenten konkurrierten auch bekannte Filmemacher um den Preis. Dazu gehört Douglas Wolfsperger »Scala Adieu. Von Windeln verweht« über das traurige Ende eines Programmkinos in Konstanz. Der Film ist eine sehr persönliche Erinnerung an das Kino puttygen , aber zugleich eine Kritik an einer Kommerzialisierung der Innenstädte. Denn in das Lichtspielhaus zieht die Filiale eines Drogeriemarktes ein, von denen es schon sieben in Konstanz gibt. Für einen immensen Umsatz sorgen die kaufkräftigen Schweizer, für die die Bodenseestadt ein Einkaufsparadies ist. Wolfsperger diskutiert, ob diese Entwicklungen letztlich nicht den Städten schaden, die dadurch an Lebensqualität verlieren.
Um einen Wandel geht es auch in »Metal Politics Taiwan« von Marco Wilms. Freddy Lim ist mit Leib und Seele Heavy Metal Sänger mit einer großen Fangemeinde in Taiwan. 2015 gründete er die New Power Party und wurde ins Parlament gewählt. Er hat einen anderen Politikstil, in dem er Probleme offen anspricht, aber sein Auftreten ist keineswegs provokant. Eher schlüpft er in seinen schicken Anzügen in die Rolle eines smarten, sympathischen Politikers, der offizielle Besuche bei den Dalai Lama oder Donald Trump genießt. In einem Punkt bleibt er hart: er will die absolute Unabhängigkeit Taiwans von China durchsetzen.
Ein wichtiges Thema im Stuttgarter Metropolkino war die wachsende Bedeutung von Rechtsradikalen in Europa. »Von Neonazis und Superhelden. Die Kleinstadt Themar und der Rechtsrock« von Adrian Oeser zeigt den originellen Kampf einiger weniger dagegen, dass ihr Ort zum Treffpunkt der Rechten wird. In »Hassjünger« von Julia Knopp und Max Damm stellen sich ein Ex-Salafist und ein Ex-Neo-Nazi ihrer Vergangenheit. Der Film will dies nicht anprangern, sondern versucht ihre Motivation für die Radikalisierung nachzuvollziehen.
Mit »Die Köchin des Kommandanten. Zwei Wege nach Auschwitz« ist Christina Stiehler ein spannender Dokumentarfilm zur NS-Geschichte gelungen, der zum Teil neues Material aus dem Konzentrationslager zeigt. Rudolf Höß und Sophie Stippel kennen sich seit ihrer Jugend in Mannheim. 1942 treffen sie in Auschwitz aufeinander. Höß als Lagerkommandant, Stippel als Insassin; sie wurde als Zeugin Jehovas nach Auschwitz geschickt. Der Film begleitet ihren Enkel bei der Spurensuche. Bei dem Filmgespräch waren er und der Enkel von Höß angereist, um die Frage zu beantworten, was es braucht, um solche extremistischen Entwicklungen zu vermeiden.
Der Verunsicherung junger Menschen in Ungarn, ein Land, das ebenfalls eine rechte Politik praktiziert, geht Cécilia Marchat in »Ungarische Wunden« nach. Junge Menschen suchen auch im Irak neue Perspektiven, ob nun durch Gründung einer Modefirma, dem Bau von Solaranlagen oder dem Unterricht in Flüchtlingslagern. »Sick of Waiting« von Alexandra Bidian, Rabea Rahmig und Nils Schellwald von der Hochschule Hannover porträtiert diese Pioniere in einem Land voller Unsicherheiten. Wie ein Musicclip ist das Porträt der Modemacherin Laura Pairan gestaltet, das Joanna Sofia Kausch, Julia Kausch und Demian Pleuler an der Hochschule Offenburg realisiert haben. Ihre überbordende Kollektion wird in dem Film »Stara Nova Ljubav« opernhaft in Ruinengebäuden inszeniert.
Einen sehr starken Eindruck hinterließ »Warum ich hier bin« von Mieko Azuma und Susanne Mi-Son Quester, die beide selbst einen Migrationshintergrund haben und deutlich machen wollen, dass es eine Migration nach Deutschland schon länger gibt und unterschiedliche Gründe hat. Sie interviewten ihre fünf Protagonisten und lassen ihre Erlebnisse von fünf Animatoren in einem individuellen Stil visualisieren. Die Hintergründe erläuterten die beiden in einem von Sabine Willmann moderierten Workshop der AG DOK Südwest zum Thema Animation und Dokumentarfilm. Dabei erläuterten sie, dass sie ihren Film für Kinder und Jugendliche geplant haben. Deshalb wollten sie rund ein Viertel des Films auch animieren lassen. Ihnen war aber nicht klar, dass die Herstellung einer Minute Animation ungefähr einen Monat dauert. Um nicht so lange warten zu müssen, entschieden sie sich, die Arbeit auf fünf Animatoren zu verteilen. Diese ‚Notlösung‘ erwies sich als Glücksfall für den Film, der dadurch sehr lebendig wirkt. Im Mittelpunkt steht ein junger Syrer, der Fußball liebt und in seiner neuen Klasse Freunde findet. Für den Fußballprofi Cacao bedeutete der Sport die Chance, aus den ärmlichen Verhältnissen seiner Familie in Brasilien auszubrechen. Die Atomkatastrophe von Fukushima veranlasste die Eltern einer Deutsch-Japanerin, ihren Wohnort von Japan nach Deutschland zu verlagern. Frau Schiller aus Ostpreußen musste nach dem Zweiten Weltkrieg fliehen und schlug sich als Wolfskind durch. Eine Bosnierin floh mit ihren Eltern vor dem Krieg dort.
Bei dem Workshop ebenfalls vorgestellt wurde der beeindruckende Dokumentarfilm »Chris the Swiss«, dessen Regisseurin Anja Kofmel eigentlich Animatorin ist und die auch schon einen kurzen Animationsfilm über den Tod ihres Cousins in Kroatien gestaltet hat. Chris war ein junger, engagierter Radiojournalist, der über den Bürgerkrieg berichtet hat. Er schloss sich einer internationalen Brigade an und wurde erwürgt aufgefunden. Zwanzig Jahre danach begibt sich Anja Kofmel auf eine Reise, um die Umstände seines Todes herauszufinden. Wahrscheinlich wurde er von seinen Mitkämpfern ermordet, da sie fürchteten, dass er ein Buch über ihre Gräueltaten und die Verwicklung der katholischen Kirche veröffentlichen wollte. Die Animation entwickelt eine außergewöhnliche Dynamik, gerade wenn es um die Situation der Bedrohung und Gewalt geht, die abstrakt aufgelöst werden. Die Produzentin Sereina Gabathuler von dschoint ventschr ging auf die Details dieser nicht ganz einfachen Produktion ein, die sich über acht Jahre hinzog und insgesamt knapp 3 Mio. Euro kostete. Es arbeiteten allein 30 Animatoren rund eineinhalb Jahre in Kroatien an dem Film, das Kompositing wurde in Leipzig durchgeführt. Fast eine Jahr lang dauerte Schnitt. Die Erfahrung zeigte, dass es sich empfiehlt, dass das Storyboard fertig und von allen Seiten abgenommen ist, bevor man in die Produktion der gezeichneten Elemente geht. Denn später etwas zu ändern, ist sehr aufwändig und teuer. Der Film verwendet auch viel historische Footage und Interviews, die 2012 mit einigen der Akteuren gedreht wurden. Da die Animation unter 50% ist, gilt der Film als Dokumentar- und nicht als Animationsfilm. Der Film wird Ende Januar in Deutschland im Kino starten.
In einem weiteren Workshop Dokumentarfilm und Schnitt erläuterte Sascha Seidel die Grundlagen der Montage im dokumentarischen Bereich. Er sprach sich dafür aus, gegen die Erwartungen zu schneiden und nicht alles zu erzählen. In der Regel würde er das gesamte Material sichten und darin nach Geschichten suchen. Im Detail erläuterte er dies an drei Beispielen, bei denen er für die Montage verantwortlich war. Die aufschlussreiche Masterclass mit Susan Gluth moderierte Sabine Willmann von der AG DOK Südwest. Ihr Abschlussfilm an der HFF München war eine Liebeserklärung an Italien und eher experimentell gestaltet. Sie ermutigte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an eigene Ideen zu glauben und für sie zu kämpfen. Ihr neuester Film »Gestorben wird Morgen« über ein vermeintliches Seniorenparadies in den USA startet Ende März im Kino.
Die anerkannte Kamerafrau Birgit Gudjonsdottir ging in ihrer Masterclass auf die beiden sehr unterschiedlichen Dokumentarfilme »No Name City« (2006) von Florian Flicker und »Und wir sind nicht die Einzigen« (2011) von Christoph Röhl ein. »No Name City« war eine teilnehmende Beobachtung, die sie mit einer kleinen DV-Kamera drehte und den Alltag in einer Westernstadt zeigt, in der sich die Bewohner über die Zukunft zerstreiten. »Und wir sind nicht die Einzigen« war eine sehr kurzfristig gestartete Produktion über den Missbrauchsskandal in der reformpädagogischen Odenwaldschule. Der Film besteht überwiegend aus gut ausgeleuchteten Interviews mit Beteiligten und Opfern, die zum Teil anonym bleiben wollten. Es war spannend zu hören, wie intensiv die Kamerafrau, die auch Mitgründerin des Netzwerks Cinematographinnen ist, sich auch inhaltlich auf ihre Filme vorbereitet.
Insgesamt wurde auf der Filmschau Baden-Württemberg also viel für am Dokumentarfilm Interessierte geboten und es gab einen regen Austausch über dieses Genre, weil Fachleute und der Nachwuchs aus verschiedenen Bereichen zusammen kamen.