Szene aus »Kulenkampffs Schuhe« © rbb/SWR/HR · Kurt Bethke

»Kulenkampffs Schuhe«

Als das Vergessen zur großen Show wurde: Der viel zu frühe Tod ihres Vaters war der Ausgangspunkt für Filmemacherin Regina Schilling zu ihrem grandiosen Dokumentarfilm »Kullenkampfs Schuhe«. Auf vielfach verschlungenem Weg findet sie Zugang zu Helden und Vorbildern, erzählt von Kriegsschuld und vom großen Vergessen, vergleicht Quizshows und Burn-outs und bewahrt dabei einen stets subjektiven Blick. Der rbb zeigt den Film, der mit Sicherheit einer der wichtigsten Dokumentarfilme der letzten Jahre ist, noch bis zum 15. Januar 2019 in der Mediathek des Senders.

Genau drei Mal ist der zentrale Satz in diesem 92 Minuten langen Dokumentarfilm zu hören: »Und sie werden nicht mehr frei ein ganzes Leben.« Gesprochen hatte ihn einst der große Verführer Hitler 1938 in einer Rede über die deutsche Jugend. Für Regina Schilling wird dieses fürchterliche Zitat zu einem Stigmata, das ihren Vater wie auch eine ganze Generation an deutschen Männern (und Frauen) begleitete. Von dem, was sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebten, was sie danach ein Leben lang verschwiegen (so wie Schillings Papa) oder in Witze pressten (wie Kulenkampff), in Interviews bearbeiteten (wie Rosenthal) oder mit Schlager-Zucker-Guss verkleisterten (wie Peter Alexander), von dem also, was in ihnen verborgen blieb, aber sie nie mehr verließ, handelt dieser Film.

Wenn schon nicht mehr frei werden, dann doch wenigstens vergessen dürfen. Das schien über viele Jahre bei dem, was von Deutschland übrig blieb, zum Recht der Überlebenden und Nachgeborenen zu gehören. Das Radio, dann das Fernsehen, das Quiz, die Show: Unterhaltung statt Aufarbeitung, Erholung statt Erinnerung. Wir sind ja nun wieder wer – aber woll wir wirklich wissen, wer wir davor waren? An der Geschichte des Vaters, wie Kulenkampff und Rosenthal im Jahre 1925 geboren, bricht Regina Schilling Politik und Zeitgeschichte. Im Kleinen wird Großes auf einmal verständlich: Mit Bier, Wein und Kindern im Schlafanzug wird zum Zwecke der Erholung nach dem Tagewerk die Amnesie kultiviert. Es darf geklatscht werden!


Kulenkampffs Schuhe (rbb-Mediathek)

(Video laut Sender abrufbar bis 15.1.2019)

Der Vater stirbt, aber Kuli und Rosenthal bleiben

Wie Regina Schilling das erzählt, auf verschlungenen Pfaden, die über viele Umwege führen, mit einer sich verästelnden, aber nie unübersichtlichen Fülle, wie es ihr dabei gelingt drei, vier Jahrzehnte Nachkriegdeutschland zu erklären, das ist ein geradezu irres Unterfangen. Immer wieder findet die Filmemacherin Balance über die persönliche Erinnerung an die eigene Kindheit und die Eltern, die sich im Drogeriegeschäft abrackerten, den Vergleich zu den Unterhaltungsshows, die zum Eckpfeiler der Familie wurden. Die großen Quizmaster wie Kulenkampff und Hans Rosenthal sind Begleiter, dann Freunde und irgendwann, als der Vater stirbt, an seiner statt auf einmal Beschützer.

»Einer wird gewinnen« oder »Dalli-Dalli« als therapeutisches Mittel, das gegen Vieles hilft: ein Narkotikum, das der eigenen Seele schmeichelt und zugleich eine ganze Nation sediert. Heitere Melodien lassen so Vieles verstummen. Die quälenden Fragen nach dem, was im Krieg geschah, ja ebenso wie auch den Rhythmus eines aus dem Takt geratenen Herzens. Als das Organ letztlich in einem letzten, großen Krampf zum Stehen kommt, stirbt der Papa. Zuhause bastelt die Tochter für die Rückkehr des Vaters und wird noch viele Jahren an dem laborieren, was ihr Vater hinterließ.

Regina Schilling hat zuvor schon beeindruckende Dokumentarfilme gedreht. Über den Missbrauch an der Odenwaldschule zum Beispiel. Oder unter dem Titel »Titos Brille« ein Erinnerungsstück, das die Balkangeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg auf humorvolle Weise zu erzählen wusste. In »Kulenkampffs Schuhe« gelingt ihr ein kleines, großes Wunder. Wie sie aus der Flut der Shows der 60er und 70er Jahre immer genau die richtigen Stellen auswählt, die sie benötigt, um die große Geschichte über Schuld, Trauma, Vergessen und Vergeben und zugleich ihre eigene Familienhistorie zu erzählen, das ist schlichtweg atemberaubend. Oder, um es mit Hänschen Rosental zu sagen: Einfach spitze!

Kulenkampffs Schuhe
Dokumentarfilm, D 2018, 92 Min.
Regie: Regina Schilling
Produktion: Zero One Film
Koproduktion: rbb, SWR, HR
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Picture of Thomas Schneider
„Ich liebe Print, ich liebe Online, ich liebe es, das Beste zwischen beiden Welten zu vereinen“, sagte Thomas Schneider über seine Arbeit. Ab 2009 war er für das HDF im Bereich Redaktion sowie PR/Marketing tätig. 2019 verstarb Schneider überraschend und viel zu früh.
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