Eine umfassende Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland von den Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis heute hat Peter Zimmermann herausgegeben. Es ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und kostet lediglich 7 Euro.
Peter Zimmermann war von 1992 bis 2006 Wissenschaftlicher Leiter im Haus des Dokumentarfilms. Im Rahmen seiner Tätigkeit beschäftigte er sich auf Tagungen und Workshops intensiv mit verschiedenen Aspekten des dokumentarischen Genres.
Zur Geschichte des deutschen Dokumentarfilms
Schon damals initiierte er ein großes Projekt zur Geschichte des deutschen Dokumentarfilms vor 1945, das von einem Team bearbeitet und 2005 als dreibändiges Werk erschienen ist. Die Ergebnisse fasst Zimmermann pointiert zusammen. Inzwischen ist es online verfügbar; die Fortsetzung für die Jahre bis 2005 wird sukzessive veröffentlicht.
Peter Zimmermann: Dokumentarfilm in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2022, 7.- €
Leseprobe (PDF)
Buchvorstellung und Diskussion im Filmhaus Köln
Peter Zimmermann wird sein Buch am Mittwoch, 2. November um 20 Uhr im Filmhaus Köln vorstellen. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung erwünscht.
Sein Ansatz ist, die Dokumentarfilmgeschichte nicht auf das Kino zu beschränken, sondern Fernsehen sowie die neuen Medien und Vertriebsmöglichkeiten ebenfalls zu berücksichtigen. Seine Forschungen zum dokumentarischen Film im Fernsehen und der DEFA fließen dabei in sein neues Buch ein.
Dokfilm bedient Interessen der Auftraggeber
Es wird deutlich, dass dokumentarische Filme wesentlich stärker als fiktionale Filme im Auftrag entstanden sind, sei es seitens des Staats, der Industrie, des Bildungswesens oder der kulturellen Institutionen, Wissenschaft oder Fernsehen. Sie alle waren stark verknüpft mit den gesellschaftlichen Veränderungen und Systemwechseln. „Diese dicht aufeinanderfolgenden gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse hatten weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung der dokumentarischen Filme in Deutschland, denn diese wurden für jeweils unterschiedliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen in kommerzieller, propagandistischer, didaktischer und journalistischer Hinsicht instrumentalisiert“, heißt es auf Seite 11. Lange Zeit mussten dokumentarische Formate aus technischen Gründen weitgehend inszeniert werden. Deshalb bezeichnet Zimmermann es völlig zu Recht als Mythos, dass sie die „ungeschminkte Wirklichkeit“ zeigen (S. 20).
Bei der Zusammenfassung der Entwicklung konzentriert er sich stark auf politische Themen wie den kolonialen Blick sowie nationalistische und politische Strömungen und Entwicklungen, die er trefflich unterstreicht. Nach den „Aktualitäten“ des Kaiserreichs etablierte sich der Kulturfilm und später der Dokumentarfilm als Genre, das ästhetisch neue Formen ausprobierte. Der Ufa-Konzern wurde mit seiner Kulturfilmabteilung ein wichtiger Player.
Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten
Selbst wenn im Nationalsozialismus die direkten Propagandafilme nur einen sehr kleinen Anteil der dokumentarischen Produktion ausmachten, so vermittelten die übrigen Kulturfilme oft unterschwellig die NS-Ideologie und ließen sich von den neuen Machthabern vereinnahmen. „Verglichen mit der reaktionären völkischen Fraktion war Goebbels ein Modernisierer, dem es um die Optimierung der Propaganda durch die schnelle Weiterentwicklung moderner Medien ging.“ (S. 79) Zum Einsatz der Wochenschau im Zweiten Weltkrieg gab es durchaus unterschiedliche Vorstellungen zwischen Propagandaminister Goebbels und Adolf Hitler.
Viele der damals aktiven Regisseure – Frauen wie Leni Riefenstahl („Der Sieg des Glaubens“, „Triumph des Willens“, „Olympia“) waren eine absolute Ausnahme – drehten in ihren Spezialgebieten weiter, ob nun Kultur, Expeditions- und Reisefilm, natur- und populärwissenschaftliche Produktionen, die im Vorprogramm des Kinos oder im Bildungsbereich liefen. Abendfüllende Dokumentarfilme gab es zwar, aber das Kino wurde von Spielfilmen dominiert. Während des Zweiten Weltkriegs gab es neben den propagandistischen Ausgaben der zentralisierten „Deutschen Wochenschau“ Propagandafilme wie „Feldzug in Polen“, „Feuertaufe“, „Sieg im Westen“ im Kino, die neben der Rechtfertigung der deutschen Angriffe vor allem Kriegserfolge und heroische deutsche Soldaten in den Mittelpunkt stellen (S.126 f.). Ein „nationalsozialistischer Realismus“ wurde als der neue deutsche Dokumentarfilmstil bezeichnet. Viele der in dieser Periode aktiven Filmemacher:innen setzten ihre Arbeit danach in der Bundesrepublik und in der DDR fort. Es gab stilistische und personelle Kontinuitäten.
Fernsehen als neuer Player
In den 1950er Jahren sieht Zimmermann in der Bundesrepublik einen Wechsel des Leitmediums vom Kulturfilm im Kino zum Fernsehdokumentarismus. Eine These, der man auch unter Berücksichtigung der TV-Redaktionen als wichtigen Auftraggeber für das Dokumentarische zumindest in dieser Radikalität keineswegs zustimmen muss, denn das neue Medium setzte sich in den Haushalten erst in den 1960er Jahren durch.
Es liefen auch weiterhin Dokumentarfilme in den Lichtspielhäusern, die Zimmermann teilweise erwähnt. Gerade Reise-, Sport- und Tierfilme waren weiterhin sehr populär und auch Kulturfilme und Wochenschauen verschwanden nicht aus den Kinos (S. 147), sondern es gab eine Übergangsphase, die sich bis in die 1970er und 1980er Jahre hinzog.
Erfolgreiche TV-Autoren drehten auch lange Dokfilme fürs Kino. Viele Autorenfilmer:innen des neuen deutschen Films ließen sich ihre dokumentarischen Produktionen von den öffentlich-rechtlichen Sendern bezahlen, führten sie aber auch auf Festivals und in den neu geschaffenen Programm- und Kommunalen Kinos vor. Ausführlich geht der Autor auf die Strukturen und Entwicklungen des westdeutschen Fernsehens ein und auf spezielle dokumentarische Formate, die daraus entstanden sind.
DEFA produzierte weiter in 35mm
Die Filmproduktion in der DDR zwischen staatlicher Gängelung und künstlerischer Freiheit würdigt Zimmermann in ihren Widersprüchen und wechselnden Phasen vom Kalten Krieg zu Tauwetterphasen. Die DEFA blieb bis 1990 überwiegend beim 35mm Schwarzweißfilm als Format. Gedreht wurden Kurzfilme für das Vorprogramm im Kino. Dabei gab es durchaus Spielräume, die die Kreativen nutzten, um nicht nur Linientreues herzustellen. Anders sah es beim Fernsehen der DDR aus, das als Massenmedium viel mehr Zuschauer:innen erreichte und dadurch ideologisch strenger kontrolliert wurde.
„Im Gegensatz zum Westfernsehen verstand sich das DDR-Fernsehen allerdings als parteiliches Medium der Propaganda im Dienste des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft und gegen den westdeutschen ‚Klassenfeind‘.“ (S. 231) Interessant sind Zimmermanns Analysen zur deutsch-deutschen Berichterstattung, denn die gegenseitige Propaganda fand sich auf beiden Seiten. Das Interesse an der Behandlung der Arbeitswelt und des Alltags der Bevölkerung wuchs in beiden Systemen.
Formatisierung, Serialisierung und Unterhaltung
Heftig kritisiert Zimmermann, dass nach der Wiedervereinigung die meisten Filmproduktionen über diesen Umbruch rein aus der Perspektive des Westens erzählt werden. Die Ostdeutschen kommen kaum zu Wort und ihre Geschichte wird marginalisiert. (S. 289 f.).
Nach der Einführung des Privatfernsehens 1984 beklagt Zimmermann bei der Programmgestaltung eine zunehmende Kommerzialisierung auch der öffentlich-rechtlichen Sender. Es werden semidokumentarische Serienformate etabliert, die sich meist an internationalen Vorbildern orientieren. Der lange künstlerische Autorenfilm findet in den Hauptprogrammen kaum noch statt und wird auf Spartenkanäle wie Arte, 3sat oder die Dritten verschoben.
Doch dank der seit Ende der 1980er Jahren etablierten regionalen, nationalen und europäischen Filmförderung sowie der Digitalisierung hat sich der Autorenfilm sehr stark entwickelt und sich das Kino wieder zurückerobert. Um die Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Dokumentarfilm-Boom. Regelmäßig zog er über eine Million Besucher:innen im Kino. Dieser Aufschwung ist leider abgeflaut. Der Dokumentarfilm muss wieder um seinen Platz im Mediensystem kämpfen.
Fazit: Warum man Zimmermanns Buch lesen sollte
Das Buch „Dokumentarfilm in Deutschland“ bietet einen hervorragenden Überblick über die Geschichte des Genres. Da er in den politischen, kulturellen und ökonomischen Kontext gestellt wird, erfährt man viel über die deutsche Geschichte und Medienpolitik. Es ist allen empfohlen, die sich über die Entwicklung des Dokumentarfilms kompetent informieren wollen.