Am Ende wurde »Irradiès« (Irradiated) des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh mit dem mit 40.000 € dotierten Dokumentarfilmpreis der 70. Berlinale ausgezeichnet.
Er lief am vorletzten Festival-Tag im Internationalen Wettbewerb – leider sehr ungünstig programmiert, da viele bereits abgereist waren. Die Berlinale 2020 zeigte im Übrigen ein breites Spektrum an Dokumentarfilmen; im Verhältnis wurden allerdings wenige Produktionen davon mit Auszeichnungen gewürdigt.
»Irradiès« macht das Gefühl des zufällig Überlebenden erfahrbar
In seinem beeindruckenden Essayfilm in Schwarz-Weiß und Farbe greift Rithy Panh, der den Terror der Roten Khmer überlebte, eigene Erinnerungen wieder auf. Dabei schafft er in »Irradiès« Bilder, die den Zuschauerinnen und Zuschauern das Gefühl des zufällig Überlebenden erfahrbar machen sollen.
Film von Rithy Panh thematisiert auch andere Genozide
Rithy Panh als Preisträger des Dokumentarfilmpreises 2020.
Er bleibt nicht bei seiner eigenen Erfahrung, sondern vergleicht diese mit der von Überlebenden anderer Genozide. Es geht darum, wie das Böse immer wieder eindringt in die Geschichte der Menschheit.
Ein Schrei der Hoffnung und des Leidens
Es beginnt eine Reise in den Schmerz. Die Leinwand ist in drei Teile aufgeteilt und macht mit Archivaufnahmen Verknüpfungen verschiedener Ereignisse deutlich. Rithy Panh bezeichnete seinen Dokumentarfilm als einen »Schrei der Hoffnung und des Leidens« und führte aus: »Was es bedeutet, Überlebender zu sein, lässt sich nicht in Worte fassen. (…) Das Böse strahlt aus. Es schmerzt – auch spätere Generationen. Doch jenseits dieses Schmerzes liegt Unschuld« Er wolle die Kraft des Kinos nutzen, um das Unsagbare zu zeigen, so der Regisseur in der Pressekonferenz.
Lobende Erwähnung für Wiener Unterwelt
Die dreiköpfige Jury des Dokumentarfilmpreises (Gerd Kroske, Marie Losier, Alanis Obomsawin), der in diesem Jahr erstmals vom öffentlich-rechtlichen rbb-Sender dotiert worden war, vergab außerdem eine »Lobende Erwähnung« an österreichischen Panorama-Beitrag »Aufzeichnungen aus der Unterwelt« von Tizza Covi und Rainer Frimmel.
Österreichischer Panorama-Beitrag mit viel Charme
Die Beiden liefern eine charmante Liebeserklärung an das Wien der 1960er Jahre, überwiegend in Schwarz-Weiß auf 16 mm gedreht. Erst am Ende sieht man ihre beiden Protagonisten, den Wienerlied-Sänger Kurt Girk und seinen Freund Alois Schmutzer, den von der Boulevard-Presse als »König der Wiener Unterwelt« bezeichnet wurde, in Farbe. Trotz der Stringenz seiner Ästhetik entwickelt der Film eine Kraft, die einen hineinzieht.
Berlinale zeigt Dokumentarfilm in seiner ganzen Breite
Insgesamt waren in diesem Jahr 21 Produktionen aus allen Sektionen für den Berlinale Dokumentarfilmpreis nominiert worden. Darunter waren Debütfilme ebenso wie Werke erfahrener Dokumentaristen. Oft versuchten sie mit einem strengen ästhetischen Konzept zu punkten, was nicht immer gelang.
Auffällig war die Rückbesinnung auf das Schwarz-Weiß-Format in vielen Produktionen. Die Filme zeigten das breite Spektrum an Themen ebenso wie die Vielfalt an visuellen Gestaltungsformen und machten dadurch den Wettbewerb sehr spannend.
Weitere Preise für Dokumentarfilme
Im Vergleich zum großen Angebot auf der 70. Berlinale haben im Verhältnis wenig dokumentarische Produktionen Auszeichnungen bekommen. Von der Jury für Generation Kplus wurde »Clebs« (»Muuts«) von Halima Ouardiri als Bester Kurzfilm ausgezeichnet. Sie porträtiert eine Auffangstation für herrenlose Hunde in Marokko.
Ausschnitt einer Szene aus »Clebs«.
Produktionen von Japan bis Saudi-Arabien
Die Ökumenische Jury zeichnete als besten Film des Forums »Seishin 0« (»Zero«) von Kazuhiro Soda aus, bei dem der japanische Psychiater Dr. Yamamoto im Mittelpunkt steht. Er kämpfte in den 1960er Jahren für die Öffnung geschlossener psychiatrischer Anstalten.
Eine »Lobende Erwähnung« ging an den Panorama-Film »Saudi Runaway« von Susanne Regina Meures. Muna aus Saudi-Arabien filmt mit dem Handy ihren Alltag und die Zwänge, denen Frauen dort unterworfen sind – der Film erreichte Platz 2 beim Panorama Publikumspreis.
Ausschnitt einer Szene aus »Saudi Runaway«.
Dokumentation über die Produktion von “Crowd”
Als Bester Dokumentar-/Essayfilm des Panoramas zeichnete die Teddy Jury » Si c’était de l’amour« (»If it were Love«) von Patric Chiha aus. Es zeigt die Produktion des Rave-Tanzstücks „Crowd“ mit entsprechender Dynamik.
»Welcome to Chechnya« thematisiert LGBTQI-Verfolgung
Den Amnesty International Filmpreis gewann »Welcome to Chechnya« von David France; er gewann auch den Panorama Publikumspreis. Es ist der erste Dokumentarfilm über AktivistInnen, die sich der systematischen Verfolgung von LGBTQI-Menschen durch das Tschetschenische Regime entgegenstellen.
Ausschnitt einer Szene aus »Garagenvolk«.
Mit dem Heiner-Carow-Preis gewürdigt wurde »Garagenvolk« von Natalija Yefimkina aus der Perspektive Deutsches Kino. Im unwirtlichen Nordrussland findet sich in den Garagen hinter rostigen Toren alles, nur kein Auto. Sie sind das Refugium des russischen Mannes.
Den Kompass-Perspektive-Preis gewann Janna Ji Wonders für »Walchensee Forever« eine spannende Familiengeschichte über vier Generationen starker Frauen.
Titelbild: Rithy Panh bei seiner Dankesrede.