Im Oktober laufen zahlreiche Dokumentarfilme im Kino an. ELEMENT OF CRIME. WENN ES DUNKEL UND KALT WIRD IN BERLIN startet ausnahmsweise am 1. Oktober. Am 3.10. folgen ARCHITECTON und UNENDLICHER RAUM. WILDES LAND und GOOGOOSH starten mit zwei weiteren Filmen am 10. Oktober.
Regie: Charly Hübner
Kinostart: 1.10.24
Spätsommer 2023. Admiralspalast, Lido, SO 36, Zitadelle Spandau – einige der Spielorte der kleinen Berlin-Tournee der Band „Element of Crime“. Der Schauspieler Charly Hübner begleitet die Band. Erweitert die Bilder der Tournee durch Gespräche mit den Musikern, taucht ein in die Geschichte der Band. Praktisch eine filmische Liebeserklärung mit Musik der Geliebten. Doch mehr als nur ein Fanfilm. Nah dran, hektische Bilder im Rhythmus der Songs. Großaufnahmen, noch näher dran, ruppig, laut und verzweifelt leise. Heute und damals. Doch ohne den Schmock der Nostalgie. Hübner und sein Team – Kamera: Casey Campbell, Schnitt: Christoph Brunner – finden und kreieren einen bildnerischen Sound. Schwarzweiß und in Farbe. Etwa so: „Rot ist Curryketchup / Grün ist Steuerbord / Trenn die Spreu vom Weizen und / Wirf den Weizen fort / Ich hab noch irgendwo ein warmes Bier zu stehen / Du kannst die Blumen damit gießen / Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin.“ Action!
Credits: „Element of Crime in Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“. Dokumentarfilm von Carly Hübner. Drehbuch: Charly Hübner.
Kamera: Casey Campbell. Schnitt: Christoph Brunner. Eine Produktion von Superfilm Filmproduktions in Zusammenarbeit mit NDR und RBB.
Im Verleih bei DCM Film Distribution.
Regie: Victor Kossakovsky
Kinostart: 3.10.24
Wie Architekten bauen, so werden die Menschen leben. Von den mythenumwobenen Tempelbauten in Baalbek bis hin zur Moderne – der Filmemacher Victor Kossakovsky umspannt in seinem Film in einem gedankendurchwirkten Netz die Geschichte der Architektur. Was erzählen Konstruktion historischer Bauwerke, was deren Ruinenfragmente, was die Struktur eines Hochhauses von heute und deren Verfall – ob über die Zeiten oder durch plötzliche zerstörerische Kräfte der Natur selbst oder von Menschen gewalttätig gewollt – von den Möglichkeiten eines menschlichen Lebens – auch für die Zukunft? Im Mittelpunkt des Films steht ein Projekt des italienischen Architekten und Designers Michele De Lucchi, Mitbegründer der Memphis Group, deren Vertreter die bloße Funktionalität von Wohnobjekten in Frage stellten, sich in ihren Entwürfen auf minimalistische Grundformen besannen: Kegel, Kugeln, Pyramiden und Würfel. Kossakovsky nutzt den Kreis als assoziativen Ausgangspunkt, zufällig gezeichnet von der Natur oder willentlich gestaltet von menschlicher Hand, um über Zivilisation schlechthin nachzudenken, sie filmisch sichtbar zu machen. Die fokussierende Kamera von Ben Bernhard, sacht dynamisiert mit bedachten Schwenks und gleichsam gehauchten Ranfahrten, nimmt mächtige Gesteinsformationen in den Blick, deren Oberflächen schrundig oder gewichst, porös oder ehern, scheinbar unverrückbar, bis sie durch eine Sprengladung wie nichts zerbröseln. Gesättigte Naturpanoramen, filigrane Oberflächendetails, Abstraktion von ‚natürlicher Schönheit‘, durchaus in der Gefahr, Natur zu ideologisieren um ihrer selbst willen. Unbewegliche Bewegungen eines Meers von Steinen, nutzbar gemacht für ein Leben in größenwahnsinnigen Kapitolen oder verbuchteten Zellen. Für Kossakovsky Beleg, dass nur der Mensch Katastrophen kann, wenn er sie denn überlebt, die Natur hingegen nicht. Dem Regisseur dient die Kunst als ein meditativer Verweser der Utopie.
Credits: „Architecton“. Dokumentarfilm von Victor Kossakovsky. Drehbuch: Victor Kossakovsky. Kamera: Ben Bernhard. Schnitt: Victor Kossakovsky und Ainara Vera. Eine Produktion von Ma.ja.de. Filmproduktions und Les Films du Balibari in Koproduktion mit ZDF und in Zusammenarbeit mit Arte. Im Verleih bei Neue Visionen Filmverleih.
Regie: Paul Raatz
Kinostart: 3.10.24
Loitz in Mecklenburg-Vorpommern. „Eine Stadt, die stirbt“ steht auf einer Schrifttafel. Das unbarmherzige Tackern eines Abrissbaggers dröhnt. Industrieanlagen werden demontiert. Die Bilder sind kantig montiert, expressiv aufgeladen. Wirken wie aus einem avantgardistischen Film der zwanziger Jahre. Doch feiern sie nicht die Moderne, glorifizieren nicht die Maschinenwelt, sind keine futuristische Verheißung. Sie geißeln den Niedergang. Vorboten von Trostlosigkeit, die sich bleiern über Loitz legt. Fragezeichen. Der Film wechselt die Perspektive. Auch visuell. Er stellt zwei Künstler vor: Annika und Rolando. Sie sollen in Loitz einen Raum für Begegnung schaffen. Der Regisseur Paul Raatz stellt sie einfach in die Loitzer Unendlichkeit. Erste Begegnungen – mit der Bürgermeisterin, anderen Künstler:innen, die ein Musikfestival planen. Man spricht darüber, was denn ‚Heimat‘ sei. Was wird gelingen? Was scheitern? Gibt es ein Verstehen untereinander? Die ‚Zukunftsstadt‘ als Zauberwerkstatt!?
Credits: „Unendlicher Raum“. Dokumentarfilm von Paul Raatz. Drehbuch: Paul Raatz. Kamera: Jean-Pierre Meyer-Gehrke, Yannick Hasse (Zusatz), Patrick Hinz (Zusatz) und Lukas Seiler (Zusatz). Schnitt: Julius Holtz. Eine Produktion von Von Anfang Anders Filmproduktion in Koproduktion mit NDR und in Zusammenarbeit mit Institut für Neue Medien. Im Verleih bei déjà-vu film.
Regie: David Allen
Kinostart: 10.10.24
Isabella Tree und Charlie Burrell erben Ende der 1980erJahre gemeinsam ein 400 Jahre altes Landgut in Südengland. Idyllisch wohl, hoheitsvoll auch, doch als landwirtschaftlicher Betrieb schon längst nicht mehr profitabel. Schulden häufen sich, kaum noch abzutragen. Was tun? Entgegen allen Warnungen entschließen sie sich zum Experiment der ‚Renaturierung‘ des Landes. Und die Natur zeigt ihre Kräfte. Aus der landwirtschaftlichen Brache bricht wildes Leben. Und das Experiment wächst sich zu einem der größten ‚Renaturierungs‘-Projekte Europas aus. David Allen und seine Kameramänner Tim Cragg und Simon de Glanville begleiten den Prozess. Fluide Kamerabewegungen, Slow Motion, Zeitlupen, Großaufnahmen und Panoramen im Gegenlicht – die Inszenierung versucht sich im Gestus der Oper. Orchestrale Musik flutet. Die Technik des Films unterwirft sich dem Schöpfungsakt der Natur.
Credits: „Wildes Land“. Dokumentarfilm von David Allen. Drehbuch: Isabella Tree. Kamera: Tim Cragg und Simon De Glanville.
Schnitt: Mark Fletcher. Eine Produktion von Passion Pictures. Im Verleih bei polyband Medien.
Regie: Javier Espada
Kinostart: 10.10.24
„Wir Surrealisten geben uns der Invasion der Bilder hin.“ So Luis Buñuel in einer Selbstauskunft. Javier Espada entfaltet in seinem Porträt Leben und Werk von Buñuel, weit über dessen Filme ausgreifend, die schräge Biografie des Künstlers mit berücksichtigend, bereichert durch bislang unbekannte Materialien und Dokumente. Kaum ein Regisseur in der Geschichte, dessen Œuvre so sehr vom Wesen des Widerspruchs bestimmt ist und doch in seiner Konsequenz als eine Einheit erscheint. Espada gelingt es – in klassischer Manier und Montage die Fundstücke addierend – die Komplexität der Filme und des Regisseurs selbst nacherlebbar zu machen. Der Filmpublizist Peter W. Jansen hat Buñuel einmal als „organsierten Anarchisten“ bezeichnet, dessen Kosmos aus Schreckgestalten, Gläubigen und Frömmlern, vermeintlichen Engeln und dem diskreten Charme der Bourgeoisie zwischen gesellschaftlicher und erotischer Subversion pendelt, zwischen Phantastik und Realismus, zwischen Beschimpfung und Versöhnung. Und das Gespenst der Freiheit als dauernde Herausforderung wider die gesellschaftliche Konvention und Konformität in die Welt setzt.
Credits: „Buñuel: Filmemacher des Surrealismus“. Dokumentarfilm von Javier Espada. Drehbuch: Javier Espada. Kamera: Ignacio Fernando. Schnitt: Carlos Ballonga und Jorge Yetano. Im Verleih bei Neue Visionen Filmverleih.
Regie: Rand Beiruty
Kinostart: 10.10.24
Eine Langzeitstudie. Die Filmemacherin Rand Beiruty begleitet über mehrere Jahre eine Gruppe von jungen Mädchen, die es ins Brandenburgische verschlagen hat. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, aus dem Libanon und anderen Ländern. Flüchtlingskinder. Sie finden sich wieder in einer Fremde, die nur schwer zu begreifen ist. Geschweige denn, sich in sie einzufinden. Beiruty ist nicht nur Dokumentaristin, sie mischt sich in den Prozess, eine neue Heimat zu finden, auch aktiv ein. Lädt zu künstlerischen Workshops ein. Es gelingt der Regisseurin, den Lebens-Swing der jungen Frauen im Bild festzuhalten. Nicht starr, sondern unvermittelt. Diese Emotionen tragen den Film. Am Ende inszeniert Beiruty ihre Protagonistinnen in den Posen ihrer Wunschberufe: Polizistin, Ärztin, Stewardess. Ob es Traumbilder bleiben, bonbonfarben und allzu schön? Ende offen, „doch solange du atmest, hast du einen Traum“.
Credits: „Über uns von uns“. Dokumentarfilm von Rand Beiruty. Drehbuch: Rand Beiruty. Kamera: Marco Müller, Antonia Kilian (Zusatz) und Meret Madörin (Zusatz). Schnitt: Patrick Richter und Abdallah Sada. Eine Produktion von Tondowski Films und Shaghab Films. Im Verleih bei
Real Fiction Filmverleih.
Regie: Yuval Hameiri, Michal Vaknin
Kinostart: 10.10.24
Wie klingt Musik? Schön? Was ist schön? Schräg? Was ist schräg? Können Töne schräg sein, also nicht schön anzuhören, oder können Töne schön sein und schräg zugleich, also schön schräg anzuhören? In Jerusalem versammeln sich drei Komponisten, ein Dirigent und rund hundert Musiker:innen. Sie kommen aus unterschiedlichen Kulturen, sprechen unterschiedliche Sprachen, doch alle eint die Liebe zur Musik. Und die Lust auf ein waghalsiges Tonexperiment. Dieses Projekt, das sie vereint, ist exzentrisch, verrückt – also schön schräg. Denn sie wollen auf Instrumenten spielen, die nicht intakt sind: gebrochene Ventile, nicht schließende Klappen, gerissene Saiten, zerbrochene Resonanzkörper. Wie klingt diese Musik? Eine Herausforderung für die Ohren, Sinnesbalancen störend? Wie überhaupt erzeugt man aus einem kaputten Klangkörper einen Ton? Die beiden Filmemacher sehen zu, vor allem hören sie hin, montieren diese Musik stimmungsvoll mit den Stimmen der Beteiligten. Eine Herausforderung mit sinnfüllendem Ergebnis.
Credits: „Das Orchester – That Orchestra with the Broken Instruments“. Dokumentarfilm von Yuval Hameiri und Michal Vaknin. Drehbuch: Yuval Hameiri. Kamera: Chen Wagshall. Schnitt: Yuval Hameiri. Eine Produktion von Mekudeshet, Jerusalm Season of Culture und Go2Films.
Im Verleih bei Tricorder Universe.
Regie: Niloufar Taghizadeh
Kinostart: 10.10.24
Googoosh ist eine Ikone der iranischen Pop- und Kinokultur. Sie ist Madonna und Beyoncé, sie ist mehr als diese beiden für das iranische Publikum. Emotionale Bezugsperson, göttinnengleich. Eine Pionierin der iranischen Populärkultur – seit über 50 Jahren auf der Bühne: Kinderstar, Teenage-Ikone, Sängerin für Generationen. 1979: Die Mullahs der islamischen Revolution beendeten abrupt ihre Karriere. Auftrittsverbot, Hausarrest. Für 21 Jahre weggesperrt, bis ihr die Flucht aus dem Iran gelang und die USA als ihr Exilland wählt: „Ich hätte nie gedacht, dass ich je den Iran verlassen, meine Heimat verlassen müsste. Meine große Hoffnung war, dass es im Iran eines Tages wieder möglich sein wird, meine Berufung ausüben zu können und für meine Landsleute zu singen.“ Im Exil steht sie wieder auf einer Bühne, gefeiert und vom Publikum umarmt. Eine selbstbewusste Frau. Eine Frau, die singen will. Die zu einem Symbol des Widerstands gegen das Regime in Teheran geworden ist. „Mein Iran, Folterkammer der Unschuldigen“ – das ist die Wahrheit, die sie singt. Der Film zeigt Ausschnitte aus Konzerten, folgt Lebensspuren über private Filme, lässt die Sängerin im Exil zu Wort kommen, montiert Filmaufnahmen vom Aufstieg der islamischen Revolution, zeigt die gesellschaftlichen Veränderungen. Ein komplexes Bild, beflügelt von der Stimme von Googoosh.
Credits: „Googoosh - Made of Fire“. Dokumentarfilm von Niloufar Taghizadeh. Drehbuch: Julia Charakter. Kamera: James Rodney Stolz und Steffen Bohnert. Schnitt: Catharina Kleber. Eine Produktion von Windcatcher Productions. Im Verleih bei mindjazz pictures.
Regie: Ian Bonhôte und Peter Ettedgui
Kinostart: 10.10.24
Die Rolle des Superhelden machte Christopher Reeve zum international gefeierten Superstar. Als Superman kämpfte er gegen Bösewichte, als Querschnittsgelähmter kämpfte er für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 1995 erlitt Reeve bei einem Reitunfall eine schwere Verletzung, die ihn dauerhaft an den Rollstuhl band und ihn auf technische Atemhilfe angewiesen machte. Ian Bonhôte und Peter Ettedgui widmen sich in ihrem Dokumentarfilm dem Werdegang Reeves zum Hollywoodstar, der sich trotz seines Schicksals nicht vom Weg abbringen ließ.
Credits: „Super/Man: The Christopher Reeve Story“. Dokumentarfilm von Ian Bonhôte und Peter Ettedgui. Drehbuch: Peter Ettedgui. Kamera: Brett Wiley. Schnitt: Otto Burnham. Eine Produktion von Passion Pictures, Jenco Films, Misfits Entertainment und Words + Pictures.
Im Verleih bei Warner Bros. Entertainment.
Einen Beitrag zu den neuen Dokus, die im September im Kino angelaufen sind, finden Sie hier. Darunter sind Beispielsweise WIR SIND SO FREI von Christian Lehman-Feddersen und Alf Schreiber, DIE SCHULE DER FRAUEN von Marie-Lou Sellem oder MY STOLEN PLANET von Farahnaz Sharifi.