Am Donnerstag, den 3.11. startete mit „Unser Familiengeheimnis“ von Caroline Siegner die 20. Staffel „Junger Dokumentarfilm“. Die von der MFG und dem SWR geförderte Reihe zeigt Filme von Absolvent*innen und Diplomand*innen der baden-württembergischen Filmakademie. “Die Reihe ‘Junger Dokumentarfilm’ gibt den Absolventen der Filmakademie Ludwigsburg die Möglichkeit, eine eigene Handschrift zu entwickeln”, erzählt SWR-Redakteur und Filmemacher Marcus Vetter, der die Reihe redaktionell betreut. Im Gespräch mit Hannah Hiergeist vom Haus des Dokumentarfilms berichtet er, was die Dokumentarfilm-Reihe auszeichnet.
Die neue Staffel ist bereits die 20. Ausgabe der Reihe „Junger Dokumentarfilm“. Was macht diese so erfolgreich?
Die Reihe „Junger Dokumentarfilm“, eine Zusammenarbeit zwischen SWR, Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg und der Filmakademie Baden-Württemberg, gibt es seit 1999. Jungen Filmemachern ermöglicht sie die Finanzierung und Ausstrahlung des Diplomfilms (erstes Debüt) und des Absolventenfilms (zweites Debüt). Viele der Filme werden zu internationalen Festivals eingeladen und mit Preisen ausgezeichnet. So wurde der Film „Hundesoldaten“ von Lena Leonhard über Diensthunde in der Bundeswehr mit dem Grimme-Preis 2017 ausgezeichnet. Ein Jahr später erhielt der Film „Leyla“ von Asli Özarslan über eine kurdische Bürgermeisterin in der Türkei den Grimme-Preis 2018. „Das Innere Leuchten“, ein Film von Stefan Sick zum Thema Demenz, feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale 2019 und lief erfolgreich im Kino, um hier nur einige Beispiele zu nennen.
Wie werden die jungen Filmemacher konkret gefördert?
Die Reihe „Junger Dokumentarfilm“ gibt den Absolventen der Filmakademie Ludwigsburg die Möglichkeit, eine eigene Handschrift zu entwickeln. Zudem baut sie bei Redakteuren außerhalb des Jungen Dokumentarfilms – zum Beispiel für den Dokumentarfilm im Ersten (Simone Reuter) oder ARTE (Gudrun Hanke el Ghomri) – Vertrauen auf und macht es möglich, zukünftige Themen innerhalb des ARD-Senderverbunds unterzubringen. Gerade erst hat die ARD den zweiten Debütfilm von Lena Leonhard, „Höhenflüge“, als Dokumentarfilm im Ersten genehmigt. Es geht uns hier vor allem auch um Kontinuität. So wird beispielsweise Stefan Sick zusammen mit Amafilm nach dem Jungen Dokumentarfilm „Das innere Leuchten“ über eine Klinik mit Demenzkranken auch seinen zweiten Debütfilm in der Reihe des Jungen Dokumentarfilms produzieren. „Die Kraft in mir“ ist eine Langzeitbeobachtung über Jugendliche in einer Jugendeinrichtung in Baden-Württemberg.
Anhand welcher Kriterien werden die Filme ausgewählt?
Der Junge Dokumentarfilm wird von jungen Menschen gemacht. Deshalb sind wir dort auch sehr an Themen interessiert, die ein junges Zielpublikum ansprechen. Ein Beispiel hierfür ist der Film „Unser Familiengeheimnis“, der Diplomfilm von Caroline Siegner, der in der diesjährigen Herbststaffel ausgestrahlt wird.
Der Film widmet sich dem Thema des späten Coming-outs von Familienvätern – einem Phänomen also, das häufiger vorkommt als man zumeist vermutet. Caroline Siegner, aufgewachsen in einer Kleinstadt im Harz, erzählt ihre eigene Geschichte als Kind eines schwulen Vaters, der sich eines Tages outet und, ohne es zu wollen, die gesamte Familie in Frage stellt. Es ist ein Dokumentarfilm über eine lang ersehnte Aufarbeitung und eine erhoffte Wiederannäherung – aus dem Wunsch heraus, zu verstehen und verstanden zu werden.
Welche inhaltlichen Kriterien gibt es oder sind die jungen Filmemacher völlig frei?
Wir wollen hier ausdrücklich junge Regisseure der Filmakademie animieren, Themen in Deutschland aufzugreifen. Diese Filme sind gerade als Debütfilm einfacher zu realisieren, und sie sind oft näher am Zuschauer und dessen Lebenswirklichkeit. Stoffe, die sich dafür eignen, können „Zeichen der Zeit“-Themen sein. Das sind Filme, die sich mit Phänomen auseinandersetzen, die sich vor unseren Augen abspielen und ins aktuelle Zeitgeschehen passen. In 2015 war es die Flüchtlingskrise, die die Menschen beschäftigte. In den letzten Jahren war es der Klimawandel. Heute könnten es Themen sein, die sich mit der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft auseinandersetzen.
In dem alljährlichen Filmakademie-Pitch, der immer im Februar stattfindet, haben wir mit dem Film „Goldhammer“ von André Krümmel und Pablo Ben Yakov ein solches „Zeichen der Zeit“-Thema ausgesucht. „Goldhammer“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, Marcel Goldhammer, mittlerweile AFD Mitglied. Er kann sich jederzeit chamäleonartig verwandeln, scheint die Ideale unserer Zeit perfekt zu erfüllen und wird vermutlich dennoch oder gerade deshalb an ihnen kaputt gehen. Der Film blickt hinter die Fassade eines narzisstischen Millennials auf dem Weg zum Populisten. Er verhandelt auf mikroskopischer Ebene dieselben großen Sinnfragen nach Identität, Zugehörigkeit und individueller Freiheit, die in der gesamten westlichen Welt immer deutlicher gestellt werden.
Solche Geschichten mit ambivalenten Charakteren bedürfen eines großen Fingerspitzengefühls, wie auch einer intensiven redaktionellen und produzentischen Betreuung. Es sind jedoch genau diese Geschichten, die wir als öffentlich-rechtlicher Sender nicht scheuen sollten.
Auf der anderen Seite interessiert uns natürlich immer auch der klassisch dokumentarische Blick, der den Zuschauer in Welten führt, in die er sonst nie blicken dürfte. Ein solches Beispiel ist der Film „Exposition“ von Juliane Sauter, der für die Herbst-Staffel 2022 geplant ist. Er begleitet drei Frauen, die alles für eine Karriere als Opernsängerin geben. Ein Leben im Teufelskreis zwischen Erfolg, Leidenschaft, Angst und Perfektionismus. Über die Hälfte aller MusikerInnen kämpft mit Angstzuständen. Neid, Druck und Opferbereitschaft werden als Hingabe, Ehrgeiz und Leidenschaft interpretiert. Doch wie soll man in solch einem Konstrukt erfolgreich werden? Und welche Spuren wird es hinterlassen?
Was hat sich in den Jahren geändert? Und wie hat sich die Reihe weiterentwickelt?
Eigentlich hat sich im Jungen Dokumentarfilm gar nicht so viel verändert. Er soll so gut sein, dass er auch im Kino laufen könnte. Dadurch unterscheiden wir uns von der klassischen TV-Dokumentation. Früher durfte der Junge Dokumentarfilm 90 Minuten lang sein, heute sollten es eher 60 Minuten sein. Die Studenten produzieren meist dennoch eine zusätzliche Festival-Langfassung, was auch gut und wichtig ist. Dadurch ist man aber auch gezwungen, diese „One-Hour-Fassung“ herzustellen, die der Weltvertrieb ganz dringend braucht, um die Filme später international vertreiben zu können.
Früher waren wir flexibler bei dem Thema Untertitel, heute ist uns die Voice-Over-Fassung wichtig, einfach weil viele Zuschauer Untertitel nur schwer lesen können. Das ist anders bei einem Festival-Publikum, das Untertitel geradezu erwartet. In bin ja nun selbst auch Regisseur und kann mitfühlen, wie sich ein Regie-Debütant fühlt, wenn er seinen Film mit einem Voice Over versehen muss. Ich bin dann aber selbst oft recht froh, dass ich am Ende des langen Prozesses eine Voice-Over-TV-Fassung wie auch eine UT-Festival-Fassung habe, die sich einfacher schauen lässt und bei einem älteren Publikum viel besser ankommt.
Die Sendetermine der Filme der Reihe „Junger Dokumentarfilm“
05. November 2020, 23:45 Uhr: „Unser Familiengeheimnis“ von Caroline Siegner.
12. November 2020, 23:45 Uhr: „Let’s make Babies – Schwule Väter in Israel“ von Hendrik Schäfer.
19. November 2020, 23:45 Uhr: „Blutige Kohle“ von Christopher Stöckle und Paola Tamayo.
26. November 2020, 23:15 Uhr: „Anwärter – Ausbildung in Stammheim“ von Jasmin Astaki-Bardeh und Adrian Huber.
Alle Dokumentarfilme sind nach Ausstrahlung auch in der ARD-Mediathek verfügbar.