Beim 60. DOK Leipzig Festival war auffällig, dass es in den verschiedenen Sektionen viele Porträts sehr alter Männer und Frauen, die schlechte Erfahrungen im Leben gesammelt haben, sowie von Jugendlichen, die überhaupt keine Idee haben, was aus ihrem Leben werden soll. Eine Überblick zu einigen sehenswerten Dokumentarfilmen aus dem diesjährigen Festival.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Licu«
Sehr fotografisch sind die schwarzweißen Bilder in »Licu. A Romanian Story« von Ana Dumitrescu über einen 92-Jährigen, der allein in seinem vollgestopften Haus lebt. Die international arbeitende Fotografin hat auch die Bildgestaltung übernommen. Licu erinnert sich gut daran, was er über die Jahrzehnte als Ingenieur alles erlebt hat und wie sich die Gesellschaft in Rumänien verändert hat. Seiner Ansicht nach regiert inzwischen der Kapitalismus das Land. Obwohl Licu absolut im Mittelpunkt des Films steht und unaufhörlich erzählt, wir es nie langweilig, sondern man könnte ihm immer weiter zuhören. Der Film wurde vier Jahre vorbereitet und der Dreh zog sich über zwei Jahre, da die Regisseurin in Frankreich lebt.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »The Centaur’s Nostalgie«
Um ein altes Ehepaar in Argentinien geht es in »The Centaur’s Nostalgie« von Nicólas Torchinsky, der für die Lebensgeschichte rund um einen Gaucho und seine Frau einen kontemplativen Stil wählte mit sehr poetischen Bildern seines Kameramannes Baltazar Torcasso. Eigentlich gibt es heute kaum mehr Gauchos, die typisch waren für eine nomadische Landwirtschaft. Heute sind sie fast zu einem Fabelwesen geworden und die Bilder werden entsprechend gestaltet mit viel Nebel, Staub und Dämmerung.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »When the Bull cried«
Sehr klar dagegen die Bilder bei »When the Bull cried« von Karen Vázques Guadarrama und Bart Gossens. Es geht um eine Bergmiene in den bolivianischen Anden aus der Perspektive der Frauen und von Jugendlichen, die eigentlich nur die Möglichkeit haben, selbst Bergarbeiter zu werden oder den Ort zu verlassen. Doch die Minenarbeiter leben gefährlich und es gibt viele Todesfälle unter Tage. Wenn einer stirbt sagt die Legende, seine Seele wandere drei Tage auf der Flucht vor den bösen Berggeistern. Die Angst wird mit Koka und Alkohol bekämpft und rituelle Opfergaben sollen die Berggeister besänftigen. Ein sehr starker Film.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Call Me Tony« und »Coal Heap Kids«
Das trifft ebenfalls zu für »Call Me Tony« von Klaudiusz Chrostowski aus Polen. Konrad ist ein Teenager, der sich nicht entscheiden kann, ob er Bodybuilder oder doch eher Schauspieler werden soll. Nonkonformisten wie Al Pacino, Robert De Niro oder Dustin Hoffman sind seine Vorbilder. Doch der Weg ist weit. Beim Bodybuilder-Wettbewerb ist er den Profis um Längen unterlegen. Zumindest hat Konrad eine Idee, was er machen will und verfolgt ambitioniert seine Ziele. Dies kann man vom fünfzehnjährigen Loïc in »Coal Heap Kids« von Frédéric Brunnquell nicht sagen. Im ehemaligen Kohlerevier in Nordfrankreich hat er keine Zukunft und hängt einfach ab. Alle Versuche, ihn zumindest zum regelmäßigen Schulbesuch zu überreden, scheitern. Die Armut und Ausweglosigkeit ist in jeder Szene zu spüren.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Schildkröten Panzer« und »Touching Concrete«
Bei den deutschen Filmen stach »Schildkröten Panzer« von Tuna Kaptan von der HFF München als Kurzfilm heraus. In der Reptilien-Auffangstation in München prallen verschiedene Welten aufeinander. Einer Syrerin auf der Flucht wurde bei der Einreise ihre Schildkröte abgenommen, die sie nun regelmäßig besucht. Denn das Tier ist für sie äußerst wichtig und der letzte Bezugspunkt zu ihrer Heimat. Aber deutscher Kontrollwahn kennt keine Gnade und verlangt entsprechende Papiere. Zugleich werden in der Station deutsche Soldaten für ihren Auslandseinsatz im Umgang mit Schlangen, Spinnen und Skorpionen trainiert. Absurdität des Alltags. Ilja Stahl hat in Südafrika und Köln studiert. Sein langer Debütfilm »Touching Concrete« porträtiert eine Gruppe Jugendliche in Johannesburg mit einer beeindruckenden Dynamik. Stahl und seiner Kameramann Niclas Reed Middleton sind ganz nah dran an den Jungs, streifen mit ihnen durch ihr Viertel, das durch Gewalt und Tod geprägt ist. Am Ende bekommen sie zumindest ein Musikvideo, auf das sie große Hoffnungen setzen.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Of Huge and Small«
Die Hoffnung, die Welt oder zumindest die Menschenrechtssituation in Russland zu bessern, musste die Aktivistin Zhanna aufgeben. In »Of Huge and Small« von Artem Funk, der in Berlin bei der privaten Filmschule filmArche studiert hat, porträtiert er sie sehr eindringlich. Ihre Aussagen zu ihren Aktivitäten werden kontrastiert mit Autofahrten durch Murmansk. Die Organisation, für die sie aktiv war und beispielsweise politische Gefangene im Gefängnis besuchte, wurde inzwischen aufgelöst und sie hat sich ins Private zurückgezogen. Trotzdem ein wichtiger Film über eine couragierte Aktivistin, die der staatlichen Repression ein Contra entgegensetzte.
Ein erstes Festival-Fazit
All diese Dokumentarfilme zeigen die Kraft und Vielfältigkeit aktueller Produktionen. Und selbst wenn es um sehr persönliche Porträts geht, so spielen die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen doch immer eine wichtige Rolle, ebenso wie historische Erfahrungen. Und mit einem solchen Programm hat sich Leipzig in den vergangenen Jahren ein internationalen Ruf erarbeitet.