Roman Brodmann Rede von Fritz Frey

Am 19.4.24 hat das Haus des Dokumentarfilms in Berlin den Roman Brodmann Preis für den politischen Dokumentarfilm verliehen. Die Rede anlässlich der Vergabe hielt der deutsche Journalist Fritz Frey. Seit 2014 ist er 1. SWR-Chefredakteur. Nachfolgend die Rede im Wortlaut. 

Ihnen allen einen guten Abend!

Schön, dass ich heute hier sein darf. Beginnen will ich mit einem Dank an die Landesvertretung Rheinland-Pfalz für den würdigen Rahmen zu Ehren von Roman Brodmann, einem Journalisten, der vor über 60 Jahren eine Rundfunkanstalt verlassen musste, weil er der damaligen Schweizer Fernsehobrigkeit zu kritisch war.

Von dieser Stelle hier hat vor zwei Jahren sein Landsmann Roger de Weck in bemerkenswerter Offenheit von diesem Skandal berichtet und seinen Bericht mit der Hoffnung verknüpft, dass das Publikum darin auch eine kleine und späte Wiedergutmachung erkennen möge.

Dass heutige Medienskandale, sagen wir, anders strukturiert sind und dass die deutsche Fernsehobrigkeit heute ganz andere Probleme hat, als kritische Journalisten zu kujonieren, steht außer Frage. Dieses Haus könnte ein Lied davon singen: Unter anderem hat es doch am 18.1.2024 den sogenannten Zukunftsrat beherbergt, der seine Reformvorschläge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorgestellt hat. Suchte man zwanghaft nach einer Brücke zwischen Roman Brodmann und dem Zukunftsrat, so fände man eine – in der Person Roger de Weck. Dazu später mehr

Zuvor aber will ich noch einen ganz persönlichen Dank loswerden: Die Einladung heute hier zu sprechen hat mir, der ich in den 1980er Jahren in Marburg studiert habe und dabei auch an einem Forschungsprojekt zum Dokumentarfilm mitarbeiten konnte, eine Wiederbegegnung mit Roman Brodmann beschert. Natürlich hat uns Studenten damals, beim Besichtigen seines legendären Films DER POLIZEISTAATSBESUCH aus dem Jahr 1967, seine Erzählhaltung fasziniert. Da schimmerte doch die grund-kritische Haltung des Panorama-Mannes Gert von Paczensky durch, der sich mit dem Moderationssatz: „Nun wollen wir uns noch ein wenig mit der Bundesregierung anlegen“ unsterblich gemacht hat. Dieser Sound, adressiert an die da oben, aber auch Brodmanns Montagetechnik, die seine Beobachtungen auf der Bildebene zu einer satirisch, mitunter sarkastischen Interpretation des Geschehens verdichtete – all das hat uns begeistert. Heute würde man wohl sagen, all das hat uns geflashed.  

Und mit dem „Heute“ wäre ich bei meinem Thema, nämlich der Frage: Hat uns das Werk Roman Brodmanns aus dem vergangenen Jahrhundert, also gut 40, 50 Jahre ist das her, heute noch etwas zu sagen? Sie ahnen es, würde ich diese Frage verneinen, stünde ich nicht hier. Aber ein einfaches Ja, kann ich auch nicht bieten.

Der Reihe nach: Zurück zum POLIZEISTAATSBESUCH. Der Film war aus der abstrakten Idee entstanden, einmal einen Staatsbesuch mit der Kamera zu begleiten. Aus einer entsprechenden Terminübersicht anstehender Staatsbesuche wählten Brodmann und sein Team den Besuch des damaligen iranischen Schahs Reza Pahlavi in Westberlin aus. Ob der Umstand, dass dieser iranische Regent aufgrund seiner wechselnden Gattinnen – darunter die deutschstämmige Soraya – seit Jahren Gegenstand der deutschen Boulevardpresse war, die Entscheidung sich genau diesem Staatsbesuch zuzuwenden beeinflusst hat? Wir wissen es nicht, in jedem Fall hatte Brodmann keine Berührungsängste mit Themen, die etwas medioker daherkamen. Ein Jahr zuvor hatte er Beobachtungen bei einer Schönheitskonkurrenz zum Film DIE MISSWAHL realisiert. Und das Werk DIE SEX-MESSE IN KOPENHAGEN UND IHRE BESUCHER trug den mehrdeutigen Untertitel DER GROSSE GRENZVERKEHR. Stoffe also, die man auf den ersten Blick eher nicht dem klassischen Themen-Kanon seriöser Dokumentaristen zuordnen würde. Auf den zweiten Blick aber ist festzuhalten, dass es Roman Brodmann mit seinen Beobachtungen gelungen ist, sozusagen eine Schicht hinter dem vermeintlichen Thema des Films freizulegen. Seine Werkzeuge hierfür waren vor allem die schon erwähnte Erzählhaltung, sein Sprachstil eine präzise Kameraarbeit und die auch schon angesprochene Montagetechnik.

Wie diese im POLIZEISTAATSBESUCH funktionierte, zeigt die Detailbetrachtung:

Wie seinerzeit wohl üblich wurden auch die iranischen Staatsgäste mit einem Ehrensalut durch Kanonenschüsse begrüßt. Die schießenden Kanonen sind zunächst zu sehen und zu hören, dann wird umgeschnitten auf Verbeugungen und Knickse und jedes Mal, wenn Verbeugungen oder Knicks den Tiefpunkt der Bewegung erreichen, donnert aus dem Off ein Kanonenschuss. So wird schon zu Beginn des Films durch die Montage der Begrüßungszeremonie diese der Lächerlichkeit preisgegeben. (Schnitt: Dorrit Wintterlin). Wie gesagt, das hat uns Studenten damals begeistert.

Roman Brodmann Preis
Filmstill aus DER POLIZEISTAATSBESUCH © Rexer/SWR (SDR)
Filmstill aus DER POLIZEISTAATSBESUCH
Filmstill aus DER POLIZEISTAATSBESUCH © Rexer/SWR (SDR)

Doch dass dieser Film heute zu den Klassikern dokumentarischen Erzählens gehört, ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sein Autor während des Schah-Besuchs und der Proteste dagegen erkannt hatte, es braucht mehr als ein Kamerateam. Warum, das hat Brodmann später so erklärt: „Jetzt muss der Film auf zwei Ebenen gestellt werden. Die eine Ebene ist der Staatsbesuch und die andere Ebene ist der Protest dagegen.“  Dies führte dazu, dass der Schuss auf den getöteten Studenten Benno Ohnesorg als Originalton aufgenommen wurde. Zum Zeitpunkt des Schusses war das Kamerateam nur wenige Meter entfernt vom Tatort.

Dass dieser Film also noch heute zu den herausragenden Dokumentarfilmen seines Genres zählt, ist nach meinem Dafürhalten weniger auf seine satirische Erzählhaltung, sondern vielmehr auf den Umstand zurückzuführen, dass es ihm gelungen war, einen echten Wendepunkt in der jüngeren deutschen Geschichte – und das war die Erschießung von Benno Ohnesorg – in unser kollektives Gedächtnis einzubrennen.

Angesichts der Tragik dieses Todes fällt es schwer zu sagen, dass der Film Brodmanns, gleichwohl ein Glücksfall für das Genre Dokumentarfilm, mehr noch: für filmjournalistisches Arbeiten schlechthin, darstellt. Und an dieser Stelle muss ich darauf hinweisen, dass meine Perspektive heute nicht mehr die eines Studierenden, sondern die eines Chefredakteurs ist. Womit man da sein Geld verdient, das ist Laien schwer zu vermitteln, deshalb bemühe ich mich, es mit einem Bild zu beschreiben. Einem Bild was auf dem Berliner Parkett durchaus gebräuchlich zu sein scheint.

Mit anderen Worten: Als Chefredakteur ist man ein Klempner. Wie dieser verfügt man über einen Werkzeugkasten. Darin die unterschiedlichsten Gerätschaften, die je nach Erfordernis eingesetzt werden, um dem Informationsauftrag gerecht zu werden. Wie bei der Klempnerei geht es beim Journalismus im weitesten Sinne um gelingendes Fließen – mal sollen es Informationen, mal sollen es Flüssigkeiten sein. Die Werkzeuge eines Chefredakteurs sind, um in einer demokratischen Gesellschaft Meinungsbildung zu ermöglichen, u.a. aktuelle Nachrichtenformate, politische Magazine à la Report Mainz, Gesprächsrunden aber auch filmische Langformate wie Dokumentarfilme. Auf unterschiedlichen Flughöhen dienen all diese sehr unterschiedlichen „Werkzeuge“ dem einen Zweck, nämlich Verständnis zu ermöglichen.

Und gerade für die guten Dokumentarfilme gilt, was Nils Minkmar über die Dokumentarfilme des Journalisten Stefan Lamby in einfachen Worten geschrieben hat: Diese Filme ordnen die Welt. Es war Eric Friedler, der uns mit DER STURZ – HONECKERS ENDE“ die Augen geöffnet hat für die unzerbrechliche, krude Weltsicht einer Margot Honecker. Wer hat uns die Brutalität des Ukraine-Krieges so nahe gebracht wie 20 TAGE IN MARIUPOL von Mstyslaw Tschernow und sein Team?  Und ich bin sicher, der heute auszuzeichnende Film wird sich in diese Reihe einfügen.

Also: Informations-Klempner unterschätzt nicht das aufklärende Potenzial von Dokumentarfilmen.

Doch nun von Dokumentaristen zu fordern, werdet alle wie Roman Brodmann einst war, das wäre meines Erachtens zu kurz gesprungen. Warum?

Roman Brodmann
Fernsehpionier Roman Brodmann © Jehle/SWR (SDR)

Jede Zeit braucht ihre eigenen, auch ihre eigenen narrativ-ästhetischen Antworten. Mit seinem Witz, seinem Spott, seinem ironischen Subjektivismus war Brodmann, glaubt man den Filmhistorikern, alles andere als en vogue. Im Gegenteil: Es herrschte gerade zu Zeiten seiner Anfänge ein urwüchsiges Vertrauen in die Realitätsmächtigkeit des Dokumentarfilms. Getreu dem seinerzeitigen Leitgedanken: Der Dokumentarfilm habe einen unverstellten Blick auf die Lebenswirklichkeit zu präsentieren, habe ganz und gar authentisch zu sein. Dieser Glaube an die Objektivität des Dokumentarfilms verneinte kategorisch u.a. den Einsatz von Musik, von Ironie – all das wurde von den damaligen Doku-Dogmatikern als inakzeptable Manipulation abgelehnt, weil so willkürlich mit Realität verfahren werde. Heute wissen, dass es den wahren, den objektiven, den authentischen Dokumentarfilm nicht geben kann. Ein Großer des Genres, Erwin Leiser, hat es treffend auf den Punkt gebracht: „Es gibt keine objektiven Filme. Jeder Filmemacher hat Ansichten und Absichten.“

Was es aber gibt, ist ein Verständnis von der eigenen Arbeit, ist Haltung, ist die Frage: Wie begegne ich der Wirklichkeit, welches Erkenntnisinteresse leitet mich?

An diversen Stellen hat Roman Brodmann Einblick gewährt in seine Berufsauffassung und ich schicke vorweg: Diese halte ich, obwohl vor Jahrzehnten formuliert, noch heute für wegweisend. Schon der vielfach verwendete Untertitel seiner Filme, „Beobachtungen“, gibt einen Fingerzeig in Richtung Subjektivität.

Eine Auswahl: RHAPSODY OF THE GIPS. BEOBACHTUNGEN UNTER SKILÄUFERN, DAS KREUZ VON OBERAMMERGAU. BEOBACHTUNGEN BEI DEN PASSIONSSPIELEN, SCHLUPFWINKEL SCHWEIZ: BEOBACHTUNGEN IM ASYL DER MILLIONÄRE, DIE AUSGEZEICHNETEN DEUTSCHEN. BEOBACHTUNGEN UNTER ORDENSTRÄGERN.

Auch wenn die Filmtitel an der einen oder anderen Stelle den Eindruck erwecken, der Autor habe bei der Themenwahl schon ein leidlich klares Bild im Kopf gehabt, wie der Film am Ende aussehen wird, so wohnt dem Begriff „Beobachtungen“ doch eine sympathische Demut inne. Es sind eben „nur“ Beobachtungen. Brodmann selbst hat darauf verwiesen, dass mit seinen Filmen dem Zuschauer „das Angebot einer Realität begegnet, die er, der Autor, als eine Möglichkeit anbietet, verbunden mit dem … Eingeständnis seiner eigenen Interpretation und Wertung.“

Dieses klare Bekenntnis zu einem subjektiven Blick auf den Gegenstand der Betrachtung bringt Brodmann für mich am prägnantesten zum Ausdruck, indem er das Thema Auschwitz mit der eigenen Biografie verbunden hat.

EUROPA UNTERM HAKENKREUZ. Als einer der Autoren dieser 13-teiligen Reihe aus den 1980 Jahren stellt er sich auch vor die Kamera und berichtet von der Zeit, als in Auschwitz Juden zu Tausenden ins Gas geschickt wurden. In genau dieser Zeit war Brodmann ein Schweizer Soldat, der an der französisch-schweizerischen Grenze Dienst schiebt. Sein Befehl: Unter anderem Zivilpersonen den Grenzübertritt zu verwehren. Offen gesteht er ein, dass man zwar wusste, dass es sich bei Zivilpersonen wohl durchweg um Juden handeln würde, aber dies war weder in der Wachstube noch sonst wo Thema. Originalton Brodmann: „Es war bequemer, der Sache aus dem Weg zu gehen.“  

Insofern hat Brodmann mit seinem Schritt vor die Kamera und dem Einflechten der eigenen Biografie die Rolle des auktorialen, mithin allwissenden Erzählers verlassen und sich als Zeitgenosse auf Augenhöhe mit seinen Interviewpartnern begeben. Diese Vermittlung von Transparenz war für seinen Film auch deshalb gewinnbringend, weil so die Glaubwürdigkeit des Autors gesteigert wurde.

Bevor ich zum Ende komme, noch einen weiteren, einen letzten Blick auf das publizistische Vermächtnis von Roman Brodmann. Drei Monate vor seinem Tod hat er im Herbst 1989 auf die Frage nach seiner Profession gefragt auf die ihm eigene Art geantwortet: Er sei beruflicher Unruhestifter. Was er damit gemeint hat? Als Kind seiner Zeit war er gesegnet mit einem tiefen Misstrauen gegen Obrigkeiten und deren offiziellen Verlautbarungen. Verlautbarungen, die aus seiner Sicht stets den Anspruch hatten, von Sachverhalten die einzig mögliche Version zu liefern, nach dem Motto: So und nicht anders hat es sich zugetragen. Diesem Anspruch hat er stets misstraut. Mit Blick auf die Arbeit für ZEICHEN DER ZEIT hat er es so formuliert: „Was wir machten, war eigentlich in der Hauptsache immer eine Gegeninformation, also eine vertiefende Information, die an bestimmte Vorgänge, die schon bekannt schienen, noch einmal heran ging, um etwas intensiver und genauer festzustellen, was da eigentlich ist.“

Die besagte Unruhe, die er stiften wolle, entsteht also in dem Moment, wenn der Inhalt einer offiziellen Verlautbarung und die Brodmann’sche Sichtweise auf ein und denselben Vorgang nicht übereinstimmen, nicht deckungsgleich sind. Denkt man diesen Gedanken weiter, so nötigt ebendiese Unruhe das Publikum dazu, sich selbst eine Meinung zu bilden. Abzuwägen, welche Darstellung diejenige ist, die überzeugt. Doch in der Gedankenwelt Brodmanns kommt seine Version eines Vorgangs nicht mit der Apodiktik der offiziellen Verlautbarung daher. Nochmal Brodmann im Original-Ton:

„Ich will den Leuten nicht sagen, wie etwas wirklich ist, sondern ich will die Leute fragen: Meint ihr nicht, dass es … auch anders sein könnte? Wobei ich gar nicht behaupte: Es ist anders. Ich finde nur, die Frage muss gestellt und beantwortet werden, wenn wir uns in irgendeiner Weise im Sinne der Aufklärung weiterentwickeln wollen.“

Für mich ist diese Definition des eigenen Tuns eine zutiefst demokratische, weil hier die Zuschauenden mit einem journalistischen Angebot konfrontiert werden, das sie als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt und es ihnen zutraut, ja sogar abfordert, eine eigene Meinung zu entwickeln.

Für mich Teil Eins der Antwort auf die Frage, was uns das Werk Roman Brodmanns heute noch zu sagen hat. Diese Demut im Interesse einer funktionierenden Demokratie ist meines Erachtens heute wichtiger denn je.

Teil Zwei meiner Antwort lautet: Transparenz durch Brodmanns klares Bekenntnis zum subjektiven Blick – das kann, muss aber nicht durch sogenannten Präsenter im ON vermittelt werden. Nach meinem Geschmack wird aktuell zu viel vor der Kamera herumgeturnt, ohne dass ich nachvollziehen kann, warum das so ist. Mein Wunsch lautet deshalb: Suchen wir nach neuen Formen, um den subjektiven Blick für das Publikum spürbar zu machen. Für den Medienwissenschaftler Karl Prümm war übrigens Brodmanns Ironie ein Instrument, um seine Filme „als Interpretationsleistung kenntlich werden zu lassen.“ Insofern war er auch innovativ, denn in den Werken anderer Dokumentarfilmer seiner Zeit kommen Spott, Ironie, Satire nur ganz selten vor.

Teil Drei meiner Antwort bezieht sich nochmal auf den Werkzeugkasten von uns Chefredakteurinnen und Chefredakteuren. Ein zentrales Werkzeug, um unserem Informationsauftrag gerecht zu werden, sind Nachrichtensendungen. Doch ehrlicherweise muss man sagen, dass die tagesaktuellen, oft kurz getakteten Berichte im besten Fall präzise und abgewogene Momentaufnahmen sind. Doch die Möglichkeiten – beispielsweise die einer monothematischen Langzeitbeobachtung, um ein tieferes Verständnis von Prozessen zu vermitteln – die haben Nachrichtenangebote naturgemäß nicht. Mit anderen Worten: um unserem Informationsauftrag nachzukommen, brauchen wir viele Werkzeuge, unter anderem auch den Dokumentarfilm.

Und auch hier sage ich: Mehr denn je. Warum? Gerade mit Blick auf das Phänomen, was News Avoidance genannt wird, also Nachrichtenmüdigkeit oder schärfer: Nachrichtenvermeidung, kann der Dokumentarfilm eine konstruktive Rolle spielen. In diversen Gesprächen wurde mir vermittelt, was auch Studien inzwischen klar belegen: Menschen nehmen in zunehmender Zahl Nachrichten nur noch als einen nicht enden wollenden Strom von Katastrophenmeldungen wahr. Die Folge: Wer die Welt außerhalb seiner Blase so empfindet, hat verständlicherweise den Wunsch Nachrichten zu vermeiden. Dem steht, so meine feste Überzeugung, das menschliche Bedürfnis gegenüber, verstehen zu wollen, was um uns herum passiert. Und genau hier liegt meines Erachtens die Chance für das Genre des Dokumentarfilms. Im allergünstigsten Falle ergänzen sich dann die Werkzeuge „Nachrichten“ und „Dokumentarfilm“. Wer die 20 TAGE IN MARIUPOL gesehen hat, wird danach den Tagesschau-Bericht zum Kriegsgeschehen in der Ukraine mit anderen Augen sehen. Wer ERNSTFALL-REGIEREN AM LIMIT von Stephan Lamby gesehen hat, der wird die aktuelle Koalition möglicherweise anders bewerten. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Fritz Frey, 1. Chefredakteur SWR, hielt in diesem Jahr die Roman Brodmann-Rede.
Fritz Frey bei der feierlichen Preisverleihung in Berlin. ©Knut Koops

Teil Vier meiner Antwort führt uns nochmal zurück zur Entstehungsgeschichte des Films DER POLIZEISTAATSBESUCH. Kleine Vorwarnung an meine eigene Blase, also an die der Planer und Entscheider. Denn dieser Teil meiner Antwort adressiere ich an uns und dieser Teil hat mit Risiko und Vertrauen zu tun. Wir erinnern uns. Eigentlich war „nur“ ein Film geplant, der mit spöttischem Blick hinter die Kulissen einer staatlichen Inszenierung schauen sollte. Doch dann die Abweichung vom Plan, weil der hellsichtige Journalist Brodmann während der Dreharbeiten erkannt hatte, dass ihm die Wirklichkeit einen Strich durch die Rechnung macht. Die Eskalation der Studentenproteste, die gewalttätigen Prügelperser und schließlich die Ermordung von Benno Ohnesorg, all das war nicht vorgesehen, war nicht – im Wortsinn – eingepreist. Heute müssen wir dankbar sein für die Hellsichtigkeit Brodmanns, aber auch den seinerzeitigen Entscheidern ist zu danken, dass sie seinem Urteil vertraut und den deshalb ansteigenden Produktionsaufwand genehmigt und das damit einhergehende Risiko mitgetragen haben.  

Das Genre Dokumentarfilm braucht nicht nur grandiose Filmemacherinnen und Filmemacher, es braucht auch risikobereite Entscheider.

Eine kurze Anmerkung noch zum eingangs erwähnten Herrn de Weck und dem Zukunftsrat. Dieser hat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter anderem erklärt, im Bereich der Information brauche es mehr Fakten und Kontext. Und genau das – nämlich Kontext – liefern gute Dokumentarfilme. Beides, Fakten und Kontext, so der Zukunftsrat sei für die Demokratie unerlässlich. Und da wäre sie: Die Brücke vom Werk Brodmanns ins heute. Auch deshalb bin ich der Meinung, dass uns der Landsmann von Herrn de Weck heute noch viel zu sagen hat.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und das tapfere Durchhalten.