Am 7.7.2022 war „Dear Memories“ von Nahuel Lopez im Arthaus Kino Delphi zu sehen. Die Gäste der Stuttgarter DOK Premiere, kuratiert von Goggo Gensch, zeigten sich sichtlich bewegt vom bildstarken wie berührenden Dokumentarfilm über MAGNUM Fotograf Thomas Hoepker und seine Frau.
Hoepker schuf über Jahrzehnte hinweg ikonische Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Doch nun verliert der frühere MAGNUM Fotograf selbst sein Gedächtnis. Diagnose: Alzheimer.
Weit mehr als ein berührendes Roadmovie
Dass „Dear Memories“ trotz dieser Umstände weder ein klassischer Fotografen-Film ist, der sich starr an Biografie und Werk entlanghangelt, noch emotionsrührig das Thema Alzheimer in Szene setzt, ist Nahuel Lopez hoch anzurechnen. Kern des Dokumentarfilms ist vielmehr die tiefe Zuneigung zwischen Thomas Hoepker und Christine Kruchen, die sich in vielen kleinen Gesten zeigt. „Am Anfang war es nicht klar, dass es ein Liebesfilm wird. Aber ja: Es ist ein großer Liebesfilm!“, betont der Filmemacher bei der DOK Premiere vom Haus des Dokumentarfilms.
Der deutsch-chilenische Regisseur („El Viaje“ mit Rod von den Ärzten, „Daniel Hope – Der Klang des Lebens“) und sein Team begleiten in „Dear Memories“ die vielleicht letzte große USA-Reise, die der mittlerweile 86-Jährige gemeinsam mit seiner Ehefrau unternimmt. Thomas Hoepker begibt sich darin auf die Spuren einer seiner legendären Foto-Reportagen. „Heartland. An American Roadtrip“ entstand Anfang der 1960er Jahre für den STERN und war ein wichtiger Baustein für seine internationale Karriere – an die er sich so gut wie nicht mehr erinnert.
DEAR MEMORIES – EINE REISE MIT DEM MAGNUM FOTOGRAFEN THOMAS HOEPKER von Nahuel Lopez
Granvista Media Produktion mit Tellfilm, NDR und RBB.
Filmförderung: Moin Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, DFFF, BKM, Zürcher Filmstiftung.
Im Verleih von DCM Film Distribution.
Deutschland, 2022. 95 Min.
Barrieren überwinden mit der Foto-Kamera
„Die Fotografie ist für Thomas ein unheimlich dankbares Tool, um weiterhin in der Welt sein zu können. Wenn er ein Bild macht, hat er etwas vor mit den Leuten und kann dadurch mit ihnen in Kontakt treten“, erklärt Lopez im Filmgespräch mit DOK-Premiere-Kurator Goggo Gensch. „Einmal sagt er: ‚Das ist mein Gerät.‘ Er kann nicht mehr benennen, was dieses Gerät genau ist, aber die Foto-Kamera ist trotzdem sein Arm, sein Auge, seine Stimme. Diese Beziehung hat sich durch die Krankheit noch intensiviert. Er nimmt die Kamera wirklich überall mit hin.“ Klar ist aber auch: Ohne seine Frau könnte Hoepker seinen Beruf, der auch seine Berufung ist, nicht mehr ausüben. Zu stark ist die Krankheit bereits fortgeschritten.
„Dear Memories“: Wenn die Erinnerung verblasst …
Abschluss der Reise soll ein Besuch von Paul Fusco sein, der in einem Altenheim in San Francisco lebt und sich mit der gleichen Diagnose wie Thomas Hoepker konfrontiert sieht. Doch Fusco verstirbt, bevor das Ehepaar mit seinem Wohnmobil in der Stadt ankommt. „Es gibt im Film diesen Moment, wo Thomas und Christine in der Wüste im Death Valley am Feuer sitzen“, führt Nahuel Lopez aus. „Man merkt, dass er gar nicht mehr weiß, wer dieser Paul eigentlich ist. Christine versucht ihn daran zu erinnern: ‚Paul war doch dein Freund. Auch ein MAGNUM Fotograf und ein ganz lieber Kerl.‘ Er hat kein Verhältnis mehr zu diesen Menschen. Die sind irgendwie weg.“
Noch da sind allerdings seine und (am Ende des Films) auch Pauls Worte. Die aus dem Off eingespielten Passagen machen den früheren Thomas Hoepker, seine Sicht auf die Welt, das Leben und die Fotografie erfahrbar. „Thomas kann nicht mehr wirklich intellektuell ein Gespräch führen. Ich habe einmal eine Interviewsequenz mit ihm in den Film reingeschnitten, damit man sieht, wie es ist, sich heute mit ihm zu unterhalten“, sagt Lopez. „Ansonsten haben wir uns an früheren Interviews und vor allem an den wunderschönen Essays bedient, die er geschrieben hat. Durch seine Krankheit sind diese quasi zu Briefen an sich selbst geworden. Sie beschreiben Sachen, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Daher: ‚Dear Memories‘, wie bei einem Briefanfang.“
Corona stellt alles auf den Kopf
Gedreht wurde während der ersten Hochphase der Corona-Pandemie, was den Fokus zwangsläufig vor allem auf die Binnenbeziehung zwischen Thomas und Christine legt. Geplante Zwischenstopps bei Freunden, Familie, Weggefährten, die den Blick hätten weiten können, mussten mehrheitlich ausfallen. „Es gab keinen Tourismus, das ganze Land war abgesperrt. Wir haben zum Glück trotzdem eine Drehgenehmigung bekommen – warum, verstehe ich bis heute nicht [lacht]“, umreißt Nahuel Lopez die herausfordernde Situation. „Wir sind ganz alleine in einem British Airways Flieger rüber geflogen. Das war wie ein Privatjet, völlig absurd. Und dann waren wir in einem Land unterwegs, das völlig ohne Touristen war. New York ohne Touristen ist eine komische Stadt. Memphis war wie ausgestorben. Auch Las Vegas hatte eine merkwürdige Atmosphäre. Die Lichter waren zwar noch an, aber es gab kein Programm und die Darsteller standen teils im Kostüm obdachlos auf der Straße. Insofern waren wir in unserer kleinen Bubble immer zusammen. Das war nicht immer einfach, aber rückblickend trotzdem eine sehr schöne und intensive Reise.“
Dreh mit vielen Herausforderungen
Doch wie dreht man, wenn das komplette Land im Ausnahmezustand ist und eine der Hauptpersonen nicht mehr einordnen kann, was eigentlich geschieht? „Jeden Tag hat Thomas wieder gefragt, was wir da machen. Er war der beste Behind-the-Scenes-Fotograf, den man sich vorstellen kann. [lacht] Von den 6000 Fotos, die er gemacht hat, sind 3000 von uns, denn er fand das Team unheimlich spannend. Es war jeden Tag eine neue Entdeckung für ihn.“
Eine große Hilfe war laut dem Filmemacher Christine Kruchen, die ebenfalls vom Fach ist: „Es war wahnsinnig angenehm, mit ihr diesen Film zu machen, weil sie wusste, worauf sie sich einlässt. Wir konnten sehr klar darüber reden, was es bedeutet, diese Krankheit sichtbar zu machen. Außerdem hat sie Thomas gut geführt. Nichts war gestellt, aber sie wusste natürlich, welche Trigger sie setzen muss. Dadurch konnten wir einen schönen roten Faden entwickeln“, erläutert Lopez, der sich nach eigener Aussage keiner bestimmten dokumentarischen Schule zugehörig fühlt. Er betont: „Was man als Dokumentarfilmer macht, ist Momente zu schaffen, Situationen zu kreieren und auf Sachen zuzugehen, weil man die Biografie und die Menschen kennt. Man kann sich vorstellen, dass an diesem oder jenem Ort etwas passiert, oder zumindest hofft man darauf. Und falls das dann eintritt, freut man sich umso mehr.“
Instinktive Zugangsebene gefunden
Auch dass Lopez sich selbst als Hobbyfotograf versteht und gibt, habe instinktiv eine Zugangsebene geöffnet. „Thomas hat mich als seinen Fotografen-Buddy entdeckt, mit dem er an drehfreien Tagen durch die Straßen zieht – ein großes Privileg. Ich durfte ihm dabei zuschauen, wie er arbeitet und seine Bilder findet. Es war für mich ein riesengroßer Lerneffekt zu sehen, wie dieser Mensch auf Menschen zugeht. Wie offen und frei er sich in seinem Alter ohne Vorbehalte auf Situationen einlässt. Dieser Charme und dieser Humor, die er schon immer hatte, helfen ihm dabei in einen spielerischen Kontakt zu treten“, erzählt Lopez. „Ich verstehe jetzt, warum seine Bilder so einzigartig sind, so toll, so frisch und so unglaublich schön. Auf einen Auslöser kann jeder drücken. Aber die Fotografie ist viel mehr als das und die Technik, die dahintersteckt. Thomas sagt selbst ‚Jedes Foto ist ein Selbstporträt.‘ Das habe ich gespürt. Jedes Foto ist er selbst.“
Feinfühlige Montage, stimmiger Musikeinsatz
Das vielschichtige Bild, das „Dear Memories“ auch durch die feinfühlige und gekonnte Montage sowie den stimmigen Einsatz von Musik zeichnet, kann der Fotograf indes nicht mehr entziffern. „Das erste Mal hat Thomas den fertigen Film während eines Berlin-Besuchs gesehen, wo ich ihn auf großer Leinwand fürs kleine Team gezeigt habe. Danach war er völlig durcheinander. Er wusste nicht, warum er zu sehen ist. Christine schrieb mich zwei Tage später an. ‚Thomas ist immer noch total durch den Wind. Kannst du mir bitte einen Link schicken, damit ich ihm den Film nochmal zeigen kann?‘ Er hat den Film dann, glaube ich, sechs, sieben, vielleicht acht Mal gesehen. Und hat so irgendwann ein Verhältnis dazu bekommen“, erzählt Lopez. „Als wir unsere Premiere beim Münchner DOKfest hatten, saß er genau vor mir. Als der Film anfing, fand er das Geschehen auf der Leinwand so interessant, dass er seinen Fotoapparat rausgeholt und die ganze Zeit durchfotografiert hat. Nach dem Ende hat er mich mit Fragen gelöchert. Er entdeckt ‚Dear Memories‘ also immer wieder neu. Und sich dadurch auch.“
Warum man „Dear Memories“ im Kino schauen sollte
„Dear Memories“ ist ein bildstarker Dokumentarfilm für die große Kino-Leinwand, der berührt und zum Nachdenken anregt. Der mal schmunzeln, teils sogar laut lachen und dann wieder ein Tränchen verdrücken lässt. „Thomas öffnet uns die Tür mit seinem Humor und Witz. Er gibt uns die Möglichkeit, über unser Lachen unsere Traurigkeit auf eine gewisse Art und Weise loszuwerden“, bringt es Daniel Lopez bei der DOK Premiere auf den Punkt. Der sensiblen Art und Weise, wie der Regisseur dem vielschichtigen Thema begegnet, zollt das Publikum im Arthaus Kino Delphi Stuttgart großen Respekt. Viel Applaus und ein angeregtes Filmgespräch auf Augenhöhe inklusive.
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
Nahuel Lopez’ „Dear Memories“ (Granvista Media Produktion) war am 7. Juli 2022 im Arthaus Kino Delphi Stuttgart zu sehen. Durch Abend und Talk führte Goggo Gensch. Auf ein Screening in Ludwigsburg musste aus terminlichen Gründen leider verzichtet werden.