Vom 15.11. bis 20.11.22 findet das Dokumentarfilm- und Videofest wieder hybrid sowohl in Kasseler Kinos als auch online (bis 27.11.22) statt. Thematischer Schwerpunkt vieler gezeigter Produktionen ist der Klimawandel und dessen erhebliche Folgen.
Die Festivalmacher:innen haben als Hauptmotiv ein Foto aus Ilkka Halsos Serie „Museum of Nature“ gewählt. Es zeigt eine Nachtaufnahme von einem Wald in einem Schutzkäfig und bezieht sich auf das Verhältnis der Menschen zur Natur. Kann sie nur in einem solchen Reservat überleben?
Zwischen Idylle und Zerstörung
Dokumentarfilme wie „Into the Ice“ von Lars H. Ostenfeld über die Auswirklungen des Klimawandels auf Gletscher (→ Kritik zur Weltpremiere beim CPH:DOX 2022) oder „Alpenland“ von Robert Schabus verdeutlichen ganz direkt Veränderungen und Zerstörungen, die die Erderwärmung mit sich bringt. Selbst entlegene Inseln erreicht der Plastikmüll der Zivilisation, wie der experimentelle Dokfilm „Geographies of Solitude“ von Jacquelin Mills zeigt, der bei der diesjährigen Berlinale den Caligari-Preis gewann.
In imposanten und zum Teil inszenierten Bildern erzählt „Die Eiche“ von Laurent Charbonnier und Michsel Seydoux von einem scheinbar intakten Lebensraum über den Lauf des Jahres. Im Zentrum der Beobachtungen stehen eine 210 Jahre alte Eiche in einem Naturschutzgebiet und die vielfältige Tierwelt um sie herum. Bilder wie jene von tierischen Verfolgungsjagden zeigen den ständigen Kampf ums Revier und letztlich ums Überleben der eigenen Spezies.
Grenzen des Wachstums als Ausstellungsthema
Monitoring, die Ausstellung für Medieninstallationen beim Kasseler Dokfest, trägt den provokativen Titel „Absolutely Killing It“. „Die zentralen Installationen visualisieren auf eindringliche Weise den Klimawandel, hinterfragen die Fortschrittsgläubigkeit und fordern zur Neubesinnung im Umgang mit den vorhandenen Ressourcen auf“, so das Festival-Team. Es will laut eigener Aussage Vorbild sein im schonenden Umgang mit der Natur und Nachhaltigkeit. Zu sehen sind die Exponate vom 16. bis 20.11.22 im Kasseler Kunstverein, Kulturbahnhof Kassel und Stellwerk.
Dokfest Kassel als Plattform für hessischen Nachwuchs
Neben dem sorgfältig kuratierten Programm ist das Kasseler Dokfest die bedeutendste Plattform für den hessischen Film und seinen Nachwuchs. Beim 13. Hessischen Hochschulfilmtag präsentieren vier Hochschulen Arbeiten ihrer Studierenden. Kassel stellt seit 30 Jahren jeweils eine Hochschule vor. Die legendäre Hochschule für Film, Fernsehen und Theater im polnischen Łódź wird diesmal vorgestellt. Sie wurde 1948 gegründet und gilt als eine der ältesten und prestigeträchtigsten Ausbildungsstätten. Beim Ranking von „Hollywood Reporter“ landet sie immer auf den vordersten Plätzen.
Qualität des kurzen Formats
Zur Eröffnung des Festivals wird ein Kurzfilmprogramm zum Thema Mensch und Natur in all seinen Facetten präsentiert. Diese thematisch angeordneten Themenblöcke mit Kurzfilmen sind eine besondere Qualität des Festivals in der nordhessischen documenta-Stadt. In Kassel hat das Team bereits in der Vergangenheit immer wieder Fingerspitzengefühl bewiesen, wichtige Filme auszuwählen und in der richtigen Kombination zu präsentieren. Sie zeigen die Qualitäten und Vielfältigkeit des kurzen Formats, dem es oft gelingt, Dinge auf den Punkt zu bringen.
„Blurring Boundaries“: wenn Grenzen verschwimmen
Bei den langen Dokumentarfilmen geht es darum, dem Kasseler Publikum die besten Filme zu zeigen – die Kurator:innen pochen dabei nicht auf Exklusivität. Der Auswahlgruppe ist dieses Mal aufgefallen, dass sich die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Inszenierung weiter auflösen und entsprechende Sequenzen einfließen, wie sie konstatiert. Dazu zählt sicherlich „Das Hamlet Syndrom“, in dem sich eine Theaterinszenierung mit den Realitäten der Ukraine vermischt. Der Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski wurde im Frühjahr mit dem neu ausgelobten Roman Brodmann Preis des Hauses des Dokumentarfilms (HDF) ausgezeichnet. „Was zunächst wie die klassische Dokumentation eines Probenprozesses anmutet“, so die Jury in ihrer Laudatio, „entwickelt sich bald zu einem fesselnden Porträt der von politischen Umbrüchen und Erschütterungen geprägten Generation Maidan. […] Kunst, Politik und Privatleben zeigen sich in diesem Film aufs Engste miteinander verwoben.“
Auch Ruth Beckermanns „Mutzenbacher“ ist ein Beispiel dafür. Die Filmemacherin lädt Männer für ein vermeintliches Casting ein, setzt sie auf ein Sofa und lässt sie Szenen aus dem erotischen Roman vorlesen. Er wurde bei der Berlinale 2022 als bester Film in der Festivalsektion „Encounters“ ausgezeichnet. Den Dokumentarfilmpreis 2022 des Goethe-Instituts bekommt Cem Kaya in Kassel für „Liebe, D-Mark und Tod“ über die Musik und Lebenswirklichkeit von türkischen Gastarbeiter:innen in Deutschland. Der Film wurde vom HDF bereits als DOK Premiere gezeigt und stieß auf sehr positive Ressonanz. Dies gilt ebenfalls für „Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors“ von Alice Agneskirchner über ein Stück gelebter Filmgeschichte oder „Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller, der als DOK Premiere im November angesetzt ist.
Familiengeschichten beim Kasseler Dokfest
Eine wichtiger Aspekt ist in Kassel die Spurensuche der Regisseur:innen nach ihrer eigenen Familiengeschichte. Diese wird oft mit privaten Filmaufnahmen des Vaters illustriert. Ein gutes Beispiel dafür ist „Anima – Die Kleider meines Vaters“ von Ulli Decker, die erst am Sterbebett vom Interesse ihres stockkonservativen Erzeugers erfuhr, im Geheimen Frauenkleider zu tragen. Von unterdrückter Homosexualität erzählt „Miguels War“ von Eliane Raheb. Miguel wächst in einer konservativen Familie im Libanon auf und wagt nicht, seine Homosexualität zu offenbaren. 1982 kämpft er im Bürgerkrieg, um sich als Mann zu beweisen und wird traumatisiert. Erst jetzt wagt er es, sich damit auseinanderzusetzen.
Eine essayistische Form wählt Offer Avnon, um sich in „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ mit seinem Verhältnis zu Deutschland zu konfrontieren. „Der Rhein fließt ins Mittelmeer“ war der Eröffnungsfilm bei DOK Leipzig 2021. Von Verdrängung, Scham und Traumatisierung einer Holocaust-Überlebenden erzählt Sandra Prechtl in „Liebe Angst“.
Spektrum vom damals bis heute
1989 bedeutete für das Festival einen Umbruch. Daran erinnert der Rückblick „Wie der Osten gewonnen wurde – Filme der ‚Wendejahre‘ aus dem Archiv des Kasseler Dokfestes“, bei der neben dem Dokumentarfilm „Kehraus“ von Gerd Kroske einige Videoarbeiten aus dieser Zeit gezeigt werden. Aber Kassel ist durchaus auch an neuen Medienentwicklungen interessiert, wie der Dokfilm „Girl Gang“ von Susanne Regina Meures beweist, der die 15-jährige Leonie porträtiert – eine äußerst erfolgreiche Influencerin mit 1,5 Millionen Follower:innen. Im Film wird deutlich, welchem Druck sie ausgesetzt ist, Neues zu liefern.
Kasseler Dokfest online
Insgesamt wurden 235 Filme aus 56 Ländern und 19 Medieninstallationen ausgewählt und bieten mit dem umfangreichen Rahmenprogramm lebendige Festivaltage (→ zum Gesamtprogramm). Viele der in Kassel in den Kinos gezeigten Filmen können bis 27.11.22 zudem online gesichtet werden. Das Einzelticket online kostet 5.- €, die Dauerkarte dafür 25.- €. Im Kino kostet ein Ticket 8,50 €. Wer alles off- und online mitnehmen möchte, ist mit 85 € dabei. Die hybride Lösung ermöglicht auch allen, die nicht anreisen können, das Kasseler Dokfest zu genießen.