Der HDF-Förderpreisgewinner „Nasim“ erzählt von einer jungen Afghanin, die mit Kindern und Ehemann im Geflüchtetenlager Moria festsitzt. Beim SWR Doku Festival sprachen Arne Büttner und Ole Jacobs am 28.6.2023 über ihren Film, der durch die EU-Asylreform erneut an Relevanz gewinnt.
Leiser Film mit großer Wucht
Cordelia Marsch (SWR) charakterisiert „Nasim“ in ihrer Anmoderation als einen Dokumentarfilm, der sehr leise daherkommt und die Zuschauenden mit großer Wucht trifft. Eine Beschreibung, die passender kaum sein könnte.
„Nasim bedeutet auf Persich und Arabisch ‚Lufthauch‘ oder ‚seichter Wind‘. Etwas, das in Bewegung ist, aber auf eine sanfte Art und Weise. Wir fanden das eine sehr passende Beschreibung für ihren Charakter, aber auch für die Art und Weise, wie wir versucht haben diesen Film zu machen“, sagen die Filmemacher.
Büttner und Jacobs zeigen die zweifache Mutter, während sie Kinder im Lesen und Schreiben unterrichtet oder ihren Sohn vor einem Boxtrainer verteidigt.
In Gesprächen erfährt man, dass Nasim im Alter von 13 Jahren gegen ihren Willen verheiratet wurde und sich die Scheidung wünscht. In einer berührenden Szene konfrontiert sie ihren Ehemann mit ihrer Unzufriedenheit.
Drehen in einer Grauzone
Das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos war zeitweise das größte europäische Auffanglager für Asylsuchende und beherbergte in seiner Hochphase über 20.000 Menschen. Im Lager herrschen bis zum Schluss katastrophale humanitäre Zustände, die sich durch die Pandemie zuspitzten. Büttner und Jacobs sind 2020 für eine Kurzreportage vor Ort. Schnell stellt sich bei ihnen das Gefühl ein, dass es mehr zu erzählen gibt:
„Als wir Anfang 2020 auf der Insel Lesbos ankamen, waren wir beide total geschockt, wie die Menschen dort festgehalten wurden und in welchen Umständen sie gezwungen wurden zu leben […] Das hat dazu geführt, dass wir fast ein ganzes Jahr auf Lesbos waren. Wir haben unseren Rückflug nach sechs Tagen verstreichen lassen und haben uns während des Corona-Lockdowns bewusst einschließen lassen.“
„Es war eine Grauzone sich dort als Dokumentarfilmer zu bewegen. Im Inneren des Camps hätten wir eine Strafe von 5000 oder 6000 Euro zahlen müssen. […] Es war ein ziemliches Katz-und-Maus-Spiel. Wir saßen auch mal auf der Polizeistation und mussten Rechenschaft ablegen. Wir könnten uns auch vorstellen, dass es einer der letzten Filme an den EU-Außengrenzen ist, bei dem man sich so viel Zeit nehmen konnte“, erklärt Jacobs.
Umgang mit den Protagonist:innen
Dokumentarfilmer:innen wählen immer wieder unterschiedliche Ansätze, wenn es um das Verhältnis zu ihren Protagonist:innen geht. Büttner und Jacobs entscheiden sich dafür auch außerhalb der Drehphasen viel Zeit mit den Menschen ihres Films zu verbringen. Eine Freundschaft entsteht.
„Wir haben sehr viel Tee miteinander getrunken und uns unterhalten. Es war auch nicht so, dass wir zehn Stunden am Tag gefilmt haben. Wir haben vor allem viel Zeit miteinander verbracht, um uns kennenzulernen und dann am Ende diesen Film zu drehen, der dann natürlich sehr viel Vertrauen voraussetzt“, sagt Büttner.
Trotzdem leben Nasim und die beiden deutschen Regisseure in unterschiedlichen Welten, die sich immer wieder bemerkbar machen:
„Als wir Nasim kennengelernt haben, hatten wir die Möglichkeit eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen. Das hat uns einfach wahnsinnig berührt und auch regelmäßig inspiriert. […] Auf der anderen Seite hat es uns mit großer Scham erfüllt, jeden Abend wieder in unsere Mietswohnung fahren zu dürfen. Das ist der Unterschied. Wir konnten selbst entscheiden, wann wir kommen und gehen.“
Was zeigen, was nicht
Aus dem Publikum kommt die Frage, wieso die unmenschlichen Lebensbedingungen vor Ort bewusst nicht thematisiert werden. Kann man das machen, so akute Missstände nicht aufzeigen?
„Wir haben im Schnitt viel darüber diskutiert, was wir zeigen wollen und was nicht, und uns schlussendlich dafür entschieden, dass wir uns mehr auf die persönliche Geschichte von Nasim konzentrieren, weil viele Journalisten diese faktische Arbeit über die Umstände vor Ort schon sehr gut geleistet hatten“, erklärt Jacobs.
„Und einige Sachen haben wir, weil wir es nicht für angebracht hielten, nicht inkludiert. Ein gutes Beispiel ist die medizinische Versorgung, die es einfach nicht gab. Viele Kinder haben ihren Geburtsort in diesen Hütten oder im Wald. […] Es gab auch keine geregelte Wasserversorgung oder Müllabfuhr, weil dieses Camp außerhalb der Zivilisation existiert hat“, ergänzt Büttner.
Ein starkes Frauenportrait
Im September 2020 brennt das Geflüchtetenlager Moria ab. Im Film sieht man verstörende Aufnahmen von Flammenbergen und traumatisierten Kindern, die sich im Gedächtnis festsetzen. Kurz darauf wird in Mavrovouni ein neues Lager errichtet. Nasim muss für sechs Monate mit ihren Söhnen dortbleiben, bevor sie nach Deutschland ausreisen darf. Für sie gibt es ein Happy End. Für viele andere Asylsuchende jedoch nicht.
„Nasim“ ist ein starkes Frauenportrait, das einen auch nach dem Kinobesuch nicht loslässt und wie Büttner und Jacobs es selbst sagen, vor allem, inspiriert. Dennoch bleibt man auch ratlos zurück. Wie soll es weitergehen an den europäischen Außengrenzen? Der Streit um die aktuelle Asylreform lässt daran zweifeln, dass sich die humanitäre Lage in absehbarer Zeit verbessern wird.
Am 30.06.2023 wurde der Deutsche Dokumentarfilmpreis in Stuttgart vergeben. Ausgezeichnet wurden „Kash Kash – Without Feathers We Can’t Live“ von Lea Najjar und „When Spring Came to Bucha“ von Mila Teshaieva und Marcus Lenz. Das vom SWR und der MFG gestiftete Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro geht je hälftig an die Preisträger:innen. Nominierte Erstlingswerke und Abschlussfilm von Filmhochschulen oder Dokumentarfilm-Debüts waren auch im Rennen für den mit 3.000 € dotierten Förderpreis des HDF. Ausgezeichnet wurde „Nasim“ von Ole Jacobs und Arne Büttner.
Ferner ausgezeichnet wurden:
- Wim Wenders mit dem Ehrenpreis fürs Lebenswerk
- Lutz Pehnert für seinen Film „Bettina“ mit dem Musikpreis des SWR
- Kristof Gerega für „Generation Euromaidan“ mit dem Publikumspreis der SWR Landesschau, gestiftet von der LFK und der MFG
(noch bis 14.11.23 in der Mediathek verfügbar)