Die Berlinale gibt immer auch Nachwuchstalenten eine Chance. HDF-Experte Kay Hoffmann stellt drei Produktionen vor, die sich mit dem Medium Film und der Filmgeschichte ebenso beschäftigen wie mit Menschen, die in der Atomkraft-Branche arbeiten.
Die Menschlichkeit des Alltags
Bei der Preisverleihung schien selbst Nicolas Philibert verblüfft, dass sein Dokumentarfilm „On the Adamant“ (OT: „Sur l’Adamant“) mit dem Hauptpreis des Wettbewerbs ausgezeichnet wurde. „Es ist wirklich zu viel“, so seine erste Reaktion. Seine behutsame Beobachtung über eine Tagesklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen auf einem Hausboot auf der Seine in Paris überzeugte. Bei Philibert, der selbst die Kamera geführt hat, stehen die Menschen im Mittelpunkt und liefern zum Teil überraschende Lebensweisheiten. Insgesamt hat er drei Jahre an diesem Film gearbeitet und musste zunächst das Vertrauen der Protagonist:innen gewinnen. 40 Jahre hat er darum gekämpft, dass auch der Dokumentarfilm als Kino akzeptiert wird. In „Die Stadt Louvre“ (OT: „La Ville Louvre“) blickte er 1990 hinter die Kulissen des Pariser Kunstmuseums. In „Land der Stille“ (OT: „Le pays des sourds“) tauchte er 1994 in die Welt der Gehörlosen ein. Am bekanntesten wurde er mit „Sein und Haben“ (OT: „Être et avoir“) über eine kleine Dorfschule in Saint-Étienne-sur-Usson in der Auvergne. Dafür gewann er 2002 den Europäischen Filmpreis. „Ich bin stolz und tief bewegt. Im Film sehen wir, wie Psychiatrie auf der Adamant praktiziert wird. Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen den Patient:innen und denjenigen, die sich um sie kümmern. Ich habe versucht das Bild zu korrigieren, das wir von den sogenannten Verrückten haben. Das Bild ist diskriminierend und stigmatisierend. Ich wollte, dass wir in der Lage sind, uns mit ihnen zu identifizieren und anzuerkennen, dass uns eine gemeinschaftliche Menschlichkeit verbindet. Wir teilen das Gefühl, Teil derselben Welt zu sein. Wie wir alle wissen, sind die verrücktesten Menschen nicht diejenigen, von denen wir denken, dass sie es sind“, so Nicolas Philibert in seiner Dankesrede bei der Preisverleihung. Die Entscheidung der internationalen Jury für diesen Dokumentarfilm als besten Film des Wettbewerbs unterstreicht, wie stark dokumentarische Formate bei der diesjährigen Berlinale waren.
Alltag in einem mexikanischen Dorf
Dies trifft ebenfalls zu für „The Echo“ (OT: „El Eco“) von Tatiana Huezo. Die mexikanisch-deutsche Koproduktion gewann den vom rbb mit 40.000 Euro dotierten Berlinale Dokumentarfilmpreis, der seit 2017 vergeben wird. Dafür waren zwanzig Produktionen aus allen Sektionen nominiert, die die Vielfalt an Themen und Stilen widerspiegelten. „The Echo“ zeigt den Alltag von Kindern in einem abgelegenen Bergdorf im Norden Mexikos. Früh müssen sie helfen bei der Landarbeit, beim Vieh oder der Versorgung der Familien. Kameramann Ernesto Pardo wählt dafür eine genau beobachtende Kamera mit ruhigen Bildern. Der Film wurde in der Sektion Encounters ebenfalls mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. „Ganz herzlichen Dank, das ist ein unglaublicher Abend für mich“, so die Regisseurin. „Ich danke allen, die an mich geglaubt und mich über viele Jahre begleitet haben. Das Kino ist eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Dokumentarfilme können es auch. Es ist ein Akt des Glaubens. Den Preis widme ich meiner Tochter und allen anderen Frauen, die Filme in Mexiko machen und neue Pfade eröffnen und hart dafür kämpfen.“
Erfahrung der Geschlechtsumwandlung
Beim Berlinale Dokumentarfilmpreis erhielt „Orlando, my political Biography“ (OT: „Orlando, ma biographie politique“) eine lobende Erwähnung. In seinem Debütfilm interviewt Paul B. Preciado transsexuelle Menschen darüber, wie befreiend sie selbst die Transformation ihres Körpers gespürt haben. Sie erwähnen jedoch ebenfalls, dass sie die andere Körpererfahrung gemacht haben und diese ihnen bleibt. Der Film nimmt den 1928 erschienen Roman von Virginia Woolf als Vorlage, die schon damals einen entsprechenden Wandlungsprozess, von einem Mann zu einer Frau, beschrieben hat. Sie traf damit die persönlichen Gefühle des Regisseurs, wie er bei der Preisverleihung bekannte. Sein Film gewann in der Sektion „Encounters“, außerdem den Spezialpreis der Jury ex aequo mit dem Spielfilm „Samsara“ von Lois Patiño, den Teddy Award als bester Dokumentarfilm und den Preis der Leser:innenjury des Tagesspiegels. Die Panorama Publikumspreisjury überzeugte „Kokomo City“ von D. Smith als bester Dokumentarfilm. Kompromisslos schildern darin vier schwarze Trans*Sexarbeiterinnen aus New York und Georgia von ihren Erfahrungen. Letztlich geht es dabei um Fragen der eigenen Identität und des Selbstbildes.
Revolutionäre Umbrüche
Die Berlinale präsentierte eine Menge politischer Themen und Krisen in der Welt. Mit dem Friedensfilmpreis und dem Kompass-Perspektive-Preis ausgezeichnet wurde „Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll. In Teheran wehrt sich die Studentin Reyhaneh Jabbari und ersticht dabei in Notwehr ihren Vergewaltiger. Dafür wird sie zum Tod verurteilt. Nach sieben Jahren Gefängnis wird das Urteil vollstreckt. Die deutsche Regisseurin Steffi Niederzoll rollt den Fall noch einmal auf. Ihr Film verdeutlicht die Ungerechtigkeit, die in der iranischen Gesellschaft stattfindet. Er erinnert an eine mutige Frau, die im Kampf für Frauenrechte ihr Leben opferte.
Ihre traumatischen Erlebnisse in iranischen Gefängnissen versuchen drei ehemalige politische Häftlinge zu rekonstruieren. Für den Dokumentarfilm „Where God is not“ (OT: „Jaii Keh Khoda Nist“) von Mehran Tamadon wird ein leerer Raum in der Peripherie von Paris zu einer Gefängniszelle. Dort erzählen die Drei von den brutalen Verhören und Folterungen und fragen sich, ob man ihre Erfahrungen so vermitteln kann. Der Film gewann den Preis der Ökumenischen Jury.
Der Caligari-Filmpreis wurde vergeben an „De Facto“ von Selma Doborac. Sie stellt sich die Frage, wie sich das Kino mit Täterschaft, extremer Gewalt, Staatsterror und Zeugenschaft auseinandersetzen kann, ohne damit gemeinsame Sache zu machen. Sie arbeitet mit zwei Schauspielern, die sie in langen, präzisen Einstellungen Texte aus Gerichtsurteilen, Täterberichte, Zeugenaussagen, Bekenntnisse von Whistleblowern lesen lässt, die manchmal auch mit philosophischen Texten verwoben sind. Ein anstrengendes Experiment. Die Filmkritiker:innen vergaben ihren FIPRESI-Preis an „Between Revolution“ (OT: „Între Revolutii“) von Vlad Petri. Gekonnt montiertes Archivmaterial aus dem Iran und Rumänien illustrieren einen semi-fiktionalen Briefwechsel zwischen einer Iranerin und einer Rumänin aus der Perspektive beider Frauen. Die eine versucht 1979 den Schah zu stürzen, die andere erlebt den grauen, lähmenden Alltag im Rumänien Ceauşescus.
Identitätssuche in Australien
Die Internationale Kurzfilmjury vergab ihren Silbernen Bären an den australischen Dokumentarfilm „Dipped in Black“ (OT: „Marungka tjalatjunu“) von Matthew Thorne und Derik Lynch. Derik Lynch, der dem Stamm der Yankunytjatjara angehört, reist in seine Heimat, um spirituelle Heilung zu finden. Er lässt die Unterdrückung, die er in der mehrheitlich weißen Stadt Adelaide erfahren hat, hinter sich und kehrt zu seiner entlegenen Gemeinschaft zurück, um dort auf heiligem Boden ein Ritual auszuführen. Erinnerungen aus der Kindheit begleiten ihn. Die Regisseure dürften sich auch über den Teddy Award als Bester Kurzfilm freuen.
Eine Lobende Erwähnung erhielt Nadia Parfan für ihren Kurzfilm „It’s a Date“. In einer Einstellung ohne Schnitt dokumentiert sie eine fünfminütige Autofahrt im rasanten Tempo durch Kiew im Kriegszustand.
Insgesamt gab es auf der 73. Berlinale viele starke Dokumentarfilme zu sehen, die mit sehr unterschiedlichen Gestaltungsmitteln arbeiteten und ihre Protagonist:innen und Themen präsentierten. Die Realität scheint manchmal überzeugendere Geschichten zu bieten als die ausgedachte Fiktion. Ein solches Festival bietet die Chance, Produktionen aus der ganzen Welt und damit auch neue Handschriften zu sehen. Man kann sich nur Nicolas Philibert, dem Preisträger des Goldenen Bären, anschließen, dass das Publikum das Gefühl teilen sollte, Teil derselben Welt zu sein. Dann wäre schon viel gewonnen.
Auswahl Preise für Dokumentarfilme Berlinale 2023:
- Internationaler Wettbewerb:
Goldener Bär Bester Film: „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert - Berlinale Dokumentarfilmpreis:
„El Eco“ von Tatiana Huezo
Lobende Erwähnung: „Orlando, ma biographie politique“ von Paul B. Preciado - Encounters:
Beste Regie: „El Eco“ von Tatiana Huezo
Spezialpreis (ex aequo): „Orlando, ma biographie politique“ von Paul B. Preciado und „Samsara“ von Lois Patiño - Internationale Kurzfilmjury:
Silberner Bär: „Marungka tjalatjunu“ von Matthew Thorne, Derik Lynch
Lobende Erwähnung: „It’s a Date“ von Nadia Parfan - Preis Ökumenische Jury:
„Where is God not“ von Mehran Tamadon
FIPRESCI Jury:
„Between Revolutions“ von Vlad Petri - Teddy Awards:
Bester Dokumentarfilm: „Orlando, ma biographie politique“ von Paul B. Preciado - Bester Kurzfilm: „Marungka tjalatjunu“ von Matthew Thorne, Derik Lynch
- Caligari-Filmpreis
„De Facto“ von Selma Doborac - Friedensfilmpreis + Kompass-Perspektive-Preis:
„Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll Panorama Publikumspreis:
Dokumentarfilm: „Kokomo City“ von D. Smith